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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur,
wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben: wäh¬
rend wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik --
der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren
gegenüber -- nur das in schüchternem Kraftgefühle ange¬
stimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören
glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester
sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst
nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spiel¬
zeug unter ihren Händen entstanden ist und -- zertrümmert
wird.

Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und
mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik
bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach
eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet
gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: wäh¬
rend die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbe¬
trachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunder¬
barsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört,
ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer
mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird?

Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren
Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug
Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie
und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die
alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum
Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde,
so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwi¬
schen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu
schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft
bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf uni¬
versale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen ver¬
nichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu

Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur,
wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben: wäh¬
rend wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik —
der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren
gegenüber — nur das in schüchternem Kraftgefühle ange¬
stimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören
glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester
sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst
nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spiel¬
zeug unter ihren Händen entstanden ist und — zertrümmert
wird.

Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und
mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik
bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach
eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet
gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: wäh¬
rend die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbe¬
trachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunder¬
barsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört,
ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer
mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird?

Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren
Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug
Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie
und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die
alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum
Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde,
so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwi¬
schen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu
schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft
bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf uni¬
versale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen ver¬
nichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu

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[94/0107] Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben: wäh¬ rend wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik — der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren gegenüber — nur das in schüchternem Kraftgefühle ange¬ stimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spiel¬ zeug unter ihren Händen entstanden ist und — zertrümmert wird. Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: wäh¬ rend die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbe¬ trachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunder¬ barsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird? Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwi¬ schen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf uni¬ versale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen ver¬ nichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/107>, abgerufen am 24.11.2024.