Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunst¬ werk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik heraus¬ geboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewisser¬ maassen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objec¬ tivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shake¬ speare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähn¬ lichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamlet¬ lehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu er¬ reichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen musste! Wir freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege recon¬ struiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunst¬ werk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik heraus¬ geboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewisser¬ maassen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objec¬ tivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shake¬ speare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähn¬ lichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamlet¬ lehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu er¬ reichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen musste! Wir freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege recon¬ struiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0106"n="93"/><p>Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt<lb/>
uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunst¬<lb/>
werk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik heraus¬<lb/>
geboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male<lb/>
dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors<lb/>
gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen<lb/>
wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des<lb/>
tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den<lb/>
griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit<lb/>
durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewisser¬<lb/>
maassen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in<lb/>
dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objec¬<lb/>
tivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder<lb/>
offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte<lb/>
und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shake¬<lb/>
speare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähn¬<lb/>
lichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht<lb/>
aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen<lb/>
und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamlet¬<lb/>
lehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie,<lb/>
die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich<lb/>
sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus<lb/>
und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und<lb/>
bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine<lb/>
oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach<lb/>
den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht<lb/>
vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war,<lb/>
die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu er¬<lb/>
reichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick<lb/>
gelingen musste! Wir freilich müssen uns die Uebermacht<lb/>
der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege recon¬<lb/>
struiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu<lb/>
empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[93/0106]
Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt
uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunst¬
werk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik heraus¬
geboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male
dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors
gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen
wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des
tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den
griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit
durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewisser¬
maassen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in
dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objec¬
tivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder
offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte
und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shake¬
speare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähn¬
lichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht
aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen
und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamlet¬
lehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie,
die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich
sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus
und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und
bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine
oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach
den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht
vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war,
die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu er¬
reichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick
gelingen musste! Wir freilich müssen uns die Uebermacht
der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege recon¬
struiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu
empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/106>, abgerufen am 07.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.