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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musik¬
treibenden Sokrates
, in dem früher erörterten Sinne hinzu¬
stellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter
dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des
Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergründlich¬
keit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.

Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärts¬
dringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort
vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde
und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natür¬
lichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt
war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen,
den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden
wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen
haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feind¬
lich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des
neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das
innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die
Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten
Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten
Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben
Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen
Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende In¬
stinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn
er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik
der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des
Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merk¬
male einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren
Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitato¬
rischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines
Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffen¬
den Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere
Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt,

hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musik¬
treibenden Sokrates
, in dem früher erörterten Sinne hinzu¬
stellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter
dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des
Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergründlich¬
keit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.

Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärts¬
dringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort
vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde
und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natür¬
lichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt
war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen,
den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden
wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen
haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feind¬
lich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des
neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das
innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die
Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten
Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten
Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben
Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen
Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende In¬
stinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn
er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik
der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des
Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merk¬
male einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren
Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitato¬
rischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines
Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffen¬
den Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere
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[95/0108] hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musik¬ treibenden Sokrates, in dem früher erörterten Sinne hinzu¬ stellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergründlich¬ keit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens. Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärts¬ dringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natür¬ lichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feind¬ lich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende In¬ stinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merk¬ male einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitato¬ rischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffen¬ den Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt,

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/108>, abgerufen am 25.11.2024.