Der andre Hauptpunkt betrifft die Artverschie- denheit der Individuen in beiden Geschlechtern. In der Idee kann man freilich sagen: Alle haben zu Allem die Anlage, denn die Vernunft ist nur Eine, und Alle seyen Vernunft. Die das behaupten, mögen dann allerdings wohl auch nur einen Gradunterschied unter den Menschen annehmen, inwiefern nach jener Ansicht die Individuen sich nicht anders als dadurch un- terscheiden könnten, daß die Anlagen, die bei Jedem alle vorhanden seyn müßten, nur bei dem Einen in höherem, bei dem Andern in geringerem Grade vor- handen wären; einige bei Einigen nur bis auf ein Mi- nimum vermindert. Allein es ist nicht nöthig, daß wir uns über diese speculative Behauptung in spitzfindige Untersuchungen einlassen; wir wollen den tiefsinnigen Satz mit seiner Folgerung zugeben, und bloß ganz ein- fach fragen: ob es irgend Jemand der Mühe werth halten könne, ein solches Minimum von Anlage bei ei- nem Lehrling bilden zu wollen? Wer z. B. wird ein Kind, dem -- wie es die gewöhnliche Redensart aus- drückt -- alle Anlage zur Musik fehlt, mit musikali- schen Uebungen quälen, bloß weil sie nach dem obigen Satze gleichwohl (wie eine qualitas occulta) als in der Seele vorhanden supponirt werden müßte? So- dann, wenn man auch der metaphysischen Behauptung praktische Folge geben wollte, so dürfte zugleich vor allem andern auch die Folgerung geltend gemacht wer- den, daß bei dem organischen Zusammenhang aller gei- stigen Anlagen des Menschen doch auch die weniger hervortretenden, selbst wenn auf deren Uebung keine be-
Vierter Abſchnitt.
Der andre Hauptpunkt betrifft die Artverſchie- denheit der Individuen in beiden Geſchlechtern. In der Idee kann man freilich ſagen: Alle haben zu Allem die Anlage, denn die Vernunft iſt nur Eine, und Alle ſeyen Vernunft. Die das behaupten, moͤgen dann allerdings wohl auch nur einen Gradunterſchied unter den Menſchen annehmen, inwiefern nach jener Anſicht die Individuen ſich nicht anders als dadurch un- terſcheiden koͤnnten, daß die Anlagen, die bei Jedem alle vorhanden ſeyn muͤßten, nur bei dem Einen in hoͤherem, bei dem Andern in geringerem Grade vor- handen waͤren; einige bei Einigen nur bis auf ein Mi- nimum vermindert. Allein es iſt nicht noͤthig, daß wir uns uͤber dieſe ſpeculative Behauptung in ſpitzfindige Unterſuchungen einlaſſen; wir wollen den tiefſinnigen Satz mit ſeiner Folgerung zugeben, und bloß ganz ein- fach fragen: ob es irgend Jemand der Muͤhe werth halten koͤnne, ein ſolches Minimum von Anlage bei ei- nem Lehrling bilden zu wollen? Wer z. B. wird ein Kind, dem — wie es die gewoͤhnliche Redensart aus- druͤckt — alle Anlage zur Muſik fehlt, mit muſikali- ſchen Uebungen quaͤlen, bloß weil ſie nach dem obigen Satze gleichwohl (wie eine qualitas occulta) als in der Seele vorhanden ſupponirt werden muͤßte? So- dann, wenn man auch der metaphyſiſchen Behauptung praktiſche Folge geben wollte, ſo duͤrfte zugleich vor allem andern auch die Folgerung geltend gemacht wer- den, daß bei dem organiſchen Zuſammenhang aller gei- ſtigen Anlagen des Menſchen doch auch die weniger hervortretenden, ſelbſt wenn auf deren Uebung keine be-
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Vierter Abſchnitt.
Der andre Hauptpunkt betrifft die Artverſchie-
denheit der Individuen in beiden Geſchlechtern.
In der Idee kann man freilich ſagen: Alle haben zu
Allem die Anlage, denn die Vernunft iſt nur Eine, und
Alle ſeyen Vernunft. Die das behaupten, moͤgen dann
allerdings wohl auch nur einen Gradunterſchied
unter den Menſchen annehmen, inwiefern nach jener
Anſicht die Individuen ſich nicht anders als dadurch un-
terſcheiden koͤnnten, daß die Anlagen, die bei Jedem
alle vorhanden ſeyn muͤßten, nur bei dem Einen in
hoͤherem, bei dem Andern in geringerem Grade vor-
handen waͤren; einige bei Einigen nur bis auf ein Mi-
nimum vermindert. Allein es iſt nicht noͤthig, daß wir
uns uͤber dieſe ſpeculative Behauptung in ſpitzfindige
Unterſuchungen einlaſſen; wir wollen den tiefſinnigen
Satz mit ſeiner Folgerung zugeben, und bloß ganz ein-
fach fragen: ob es irgend Jemand der Muͤhe werth
halten koͤnne, ein ſolches Minimum von Anlage bei ei-
nem Lehrling bilden zu wollen? Wer z. B. wird ein
Kind, dem — wie es die gewoͤhnliche Redensart aus-
druͤckt — alle Anlage zur Muſik fehlt, mit muſikali-
ſchen Uebungen quaͤlen, bloß weil ſie nach dem obigen
Satze gleichwohl (wie eine qualitas occulta) als in der
Seele vorhanden ſupponirt werden muͤßte? So-
dann, wenn man auch der metaphyſiſchen Behauptung
praktiſche Folge geben wollte, ſo duͤrfte zugleich vor
allem andern auch die Folgerung geltend gemacht wer-
den, daß bei dem organiſchen Zuſammenhang aller gei-
ſtigen Anlagen des Menſchen doch auch die weniger
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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/338>, abgerufen am 22.11.2024.
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