Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

Anwendung der allgemeinen Grundsätze etc.
Probirstein ist; wer zugleich erkennt, daß selbst das
Höchste, was je ein männlicher Genius hervorgebracht
hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird
jene Eigenthümlichkeit des weiblichen Geistes in Verglei-
chung mit der des männlichen nicht gering achten; er
wird einräumen müssen, daß man grundlos um den
Vorzug streite, da beide incommensurabel sind, beide
von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilität
in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch
nicht weiter läugnen können, daß es im höchsten Grade
unverständig sey, das Weib auf dieselbe Weise bilden
zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und
Regel, mit fleißiger Zergliederung und selbst Zersplitte-
rung der Begriffe und der Regeln.

Zwar hätten schon längst abschreckende Beispiele ge-
nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung
aufmerksam machen können. Aber man suchte den Grund
der widernatürlichen Erscheinung nur in der Halbheit
der Bildung
, und meinte, daß bei vollständig
durchgeführter Bildung
etwas ganz Vortreffli-
ches würde geworden seyn. So sehr konnte man in
Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts vergessen,
was sonst in Theorie und Praxis als Eigenthümlichkeit
des Weibes bekannt und anerkannt genug ist. So sehr
hat man vergessen, das Weib in seiner Art zu bilden
und zu der Vollendung zu erheben, zu der dieses Ge-
schlecht bestimmt ist, daß man gar nicht mehr sehen
wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem
man es nach Männer Art zu bilden unternahm.


Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Probirſtein iſt; wer zugleich erkennt, daß ſelbſt das
Hoͤchſte, was je ein maͤnnlicher Genius hervorgebracht
hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird
jene Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes in Verglei-
chung mit der des maͤnnlichen nicht gering achten; er
wird einraͤumen muͤſſen, daß man grundlos um den
Vorzug ſtreite, da beide incommenſurabel ſind, beide
von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilitaͤt
in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch
nicht weiter laͤugnen koͤnnen, daß es im hoͤchſten Grade
unverſtaͤndig ſey, das Weib auf dieſelbe Weiſe bilden
zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und
Regel, mit fleißiger Zergliederung und ſelbſt Zerſplitte-
rung der Begriffe und der Regeln.

Zwar haͤtten ſchon laͤngſt abſchreckende Beiſpiele ge-
nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung
aufmerkſam machen koͤnnen. Aber man ſuchte den Grund
der widernatuͤrlichen Erſcheinung nur in der Halbheit
der Bildung
, und meinte, daß bei vollſtaͤndig
durchgefuͤhrter Bildung
etwas ganz Vortreffli-
ches wuͤrde geworden ſeyn. So ſehr konnte man in
Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts vergeſſen,
was ſonſt in Theorie und Praxis als Eigenthuͤmlichkeit
des Weibes bekannt und anerkannt genug iſt. So ſehr
hat man vergeſſen, das Weib in ſeiner Art zu bilden
und zu der Vollendung zu erheben, zu der dieſes Ge-
ſchlecht beſtimmt iſt, daß man gar nicht mehr ſehen
wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem
man es nach Maͤnner Art zu bilden unternahm.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0337" n="325"/><fw place="top" type="header">Anwendung der allgemeinen Grund&#x017F;a&#x0364;tze &#xA75B;c.</fw><lb/>
Probir&#x017F;tein i&#x017F;t; wer zugleich erkennt, daß &#x017F;elb&#x017F;t das<lb/>
Ho&#x0364;ch&#x017F;te, was je ein ma&#x0364;nnlicher Genius hervorgebracht<lb/>
hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird<lb/>
jene Eigenthu&#x0364;mlichkeit des weiblichen Gei&#x017F;tes in Verglei-<lb/>
chung mit der des ma&#x0364;nnlichen nicht gering achten; er<lb/>
wird einra&#x0364;umen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, daß man grundlos um den<lb/>
Vorzug &#x017F;treite, da beide incommen&#x017F;urabel &#x017F;ind, beide<lb/>
von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilita&#x0364;t<lb/>
in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch<lb/>
nicht weiter la&#x0364;ugnen ko&#x0364;nnen, daß es im ho&#x0364;ch&#x017F;ten Grade<lb/>
unver&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;ey, das Weib auf die&#x017F;elbe Wei&#x017F;e bilden<lb/>
zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und<lb/>
Regel, mit fleißiger Zergliederung und &#x017F;elb&#x017F;t Zer&#x017F;plitte-<lb/>
rung der Begriffe und der Regeln.</p><lb/>
            <p>Zwar ha&#x0364;tten &#x017F;chon la&#x0364;ng&#x017F;t ab&#x017F;chreckende Bei&#x017F;piele ge-<lb/>
nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung<lb/>
aufmerk&#x017F;am machen ko&#x0364;nnen. Aber man &#x017F;uchte den Grund<lb/>
der widernatu&#x0364;rlichen Er&#x017F;cheinung nur in der <hi rendition="#g">Halbheit<lb/>
der Bildung</hi>, und meinte, daß bei <hi rendition="#g">voll&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
durchgefu&#x0364;hrter Bildung</hi> etwas ganz Vortreffli-<lb/>
ches wu&#x0364;rde geworden &#x017F;eyn. So &#x017F;ehr konnte man in<lb/>
Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts verge&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
was &#x017F;on&#x017F;t in Theorie und Praxis als Eigenthu&#x0364;mlichkeit<lb/>
des Weibes bekannt und anerkannt genug i&#x017F;t. So &#x017F;ehr<lb/>
hat man verge&#x017F;&#x017F;en, das Weib in &#x017F;einer Art zu bilden<lb/>
und zu der Vollendung zu erheben, zu der die&#x017F;es Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht be&#x017F;timmt i&#x017F;t, daß man gar nicht mehr &#x017F;ehen<lb/>
wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem<lb/>
man es nach Ma&#x0364;nner Art zu bilden unternahm.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0337] Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc. Probirſtein iſt; wer zugleich erkennt, daß ſelbſt das Hoͤchſte, was je ein maͤnnlicher Genius hervorgebracht hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird jene Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes in Verglei- chung mit der des maͤnnlichen nicht gering achten; er wird einraͤumen muͤſſen, daß man grundlos um den Vorzug ſtreite, da beide incommenſurabel ſind, beide von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilitaͤt in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch nicht weiter laͤugnen koͤnnen, daß es im hoͤchſten Grade unverſtaͤndig ſey, das Weib auf dieſelbe Weiſe bilden zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und Regel, mit fleißiger Zergliederung und ſelbſt Zerſplitte- rung der Begriffe und der Regeln. Zwar haͤtten ſchon laͤngſt abſchreckende Beiſpiele ge- nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung aufmerkſam machen koͤnnen. Aber man ſuchte den Grund der widernatuͤrlichen Erſcheinung nur in der Halbheit der Bildung, und meinte, daß bei vollſtaͤndig durchgefuͤhrter Bildung etwas ganz Vortreffli- ches wuͤrde geworden ſeyn. So ſehr konnte man in Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts vergeſſen, was ſonſt in Theorie und Praxis als Eigenthuͤmlichkeit des Weibes bekannt und anerkannt genug iſt. So ſehr hat man vergeſſen, das Weib in ſeiner Art zu bilden und zu der Vollendung zu erheben, zu der dieſes Ge- ſchlecht beſtimmt iſt, daß man gar nicht mehr ſehen wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem man es nach Maͤnner Art zu bilden unternahm.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/337
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/337>, abgerufen am 18.05.2024.