der Individuen so weit, daß man, von einer Art- verschiedenheit der Individuen zu sprechen, für eine Verletzung der Vernunft hielt.
"Die Bildung, sagte man, soll nur Eine seyn, wie die Vernunft selbst nur Eine, der Geist nur Einer, und das Object der Erkenntniß nur Eines ist. Alles soll von Allen erkannt werden, fordert das Ideal der allgemei- nen Bildung. Dieses Ideal wird freilich nicht von Al- len in seiner Vollständigkeit erreicht, weil nicht Allen die Bedingungen zu dem Allen der Erkenntniß gegeben sind, weil innerliche und äußerliche Beschränkungen die Einzelnen bald mehr bald weniger verhindern, sich des Ganzen zu bemächtigen. Allein Alle sind doch, als Vernunft, dazu bestimmt, zu dem Ganzen der Erkennt- niß zu gelangen, und der Unterricht darf darinn nicht eine willkürliche Bestimmung machen; seine Aufgabe ist, zu jenem Ziele Alle, so weit als möglich, hinan zu führen, jedem Individuum gerade von der Seite mehr nachzuhelfen, von der es am meisten einer Nach- hülfe bedarf, und so gleichförmig die Hindernisse, die sich bei den Einzelnen finden, möglichst zu beseitigen. Darinn kann es keinen andern Unterschied, als den des Grades, geben. Der Unterricht führt Jeden zu dem Ganzen der Erkenntniß, so weit es nach den Kräften eines Jeden möglich ist. Wer will denn wagen, vor- zuschreiben, was dieser oder Jener aus dem Ganzen der Erkenntniß auffassen, was er unbeachtet lassen soll? Da jeder Mensch, als Mensch, die Bestimmung und die Fähigkeit zur ganzen Bildung in sich trägt, darf
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Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
der Individuen ſo weit, daß man, von einer Art- verſchiedenheit der Individuen zu ſprechen, fuͤr eine Verletzung der Vernunft hielt.
„Die Bildung, ſagte man, ſoll nur Eine ſeyn, wie die Vernunft ſelbſt nur Eine, der Geiſt nur Einer, und das Object der Erkenntniß nur Eines iſt. Alles ſoll von Allen erkannt werden, fordert das Ideal der allgemei- nen Bildung. Dieſes Ideal wird freilich nicht von Al- len in ſeiner Vollſtaͤndigkeit erreicht, weil nicht Allen die Bedingungen zu dem Allen der Erkenntniß gegeben ſind, weil innerliche und aͤußerliche Beſchraͤnkungen die Einzelnen bald mehr bald weniger verhindern, ſich des Ganzen zu bemaͤchtigen. Allein Alle ſind doch, als Vernunft, dazu beſtimmt, zu dem Ganzen der Erkennt- niß zu gelangen, und der Unterricht darf darinn nicht eine willkuͤrliche Beſtimmung machen; ſeine Aufgabe iſt, zu jenem Ziele Alle, ſo weit als moͤglich, hinan zu fuͤhren, jedem Individuum gerade von der Seite mehr nachzuhelfen, von der es am meiſten einer Nach- huͤlfe bedarf, und ſo gleichfoͤrmig die Hinderniſſe, die ſich bei den Einzelnen finden, moͤglichſt zu beſeitigen. Darinn kann es keinen andern Unterſchied, als den des Grades, geben. Der Unterricht fuͤhrt Jeden zu dem Ganzen der Erkenntniß, ſo weit es nach den Kraͤften eines Jeden moͤglich iſt. Wer will denn wagen, vor- zuſchreiben, was dieſer oder Jener aus dem Ganzen der Erkenntniß auffaſſen, was er unbeachtet laſſen ſoll? Da jeder Menſch, als Menſch, die Beſtimmung und die Faͤhigkeit zur ganzen Bildung in ſich traͤgt, darf
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Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
der Individuen ſo weit, daß man, von einer Art-
verſchiedenheit der Individuen zu ſprechen, fuͤr eine
Verletzung der Vernunft hielt.
„Die Bildung, ſagte man, ſoll nur Eine ſeyn, wie
die Vernunft ſelbſt nur Eine, der Geiſt nur Einer, und
das Object der Erkenntniß nur Eines iſt. Alles ſoll von
Allen erkannt werden, fordert das Ideal der allgemei-
nen Bildung. Dieſes Ideal wird freilich nicht von Al-
len in ſeiner Vollſtaͤndigkeit erreicht, weil nicht Allen
die Bedingungen zu dem Allen der Erkenntniß gegeben
ſind, weil innerliche und aͤußerliche Beſchraͤnkungen die
Einzelnen bald mehr bald weniger verhindern, ſich des
Ganzen zu bemaͤchtigen. Allein Alle ſind doch, als
Vernunft, dazu beſtimmt, zu dem Ganzen der Erkennt-
niß zu gelangen, und der Unterricht darf darinn nicht
eine willkuͤrliche Beſtimmung machen; ſeine Aufgabe
iſt, zu jenem Ziele Alle, ſo weit als moͤglich, hinan
zu fuͤhren, jedem Individuum gerade von der Seite
mehr nachzuhelfen, von der es am meiſten einer Nach-
huͤlfe bedarf, und ſo gleichfoͤrmig die Hinderniſſe, die
ſich bei den Einzelnen finden, moͤglichſt zu beſeitigen.
Darinn kann es keinen andern Unterſchied, als den des
Grades, geben. Der Unterricht fuͤhrt Jeden zu dem
Ganzen der Erkenntniß, ſo weit es nach den Kraͤften
eines Jeden moͤglich iſt. Wer will denn wagen, vor-
zuſchreiben, was dieſer oder Jener aus dem Ganzen
der Erkenntniß auffaſſen, was er unbeachtet laſſen ſoll?
Da jeder Menſch, als Menſch, die Beſtimmung und
die Faͤhigkeit zur ganzen Bildung in ſich traͤgt, darf
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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/333>, abgerufen am 16.07.2024.
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