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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Dritter Abschnitt.
herrscht in dem öffentlichen Urtheil über Geisteswerke?
Mit welcher Frivolität werden die ersten Geister unsrer
Nation in unsrer Mitte selbst herabgesetzt? Welche
andre Nation hat mit gleicher Geringschätzigkeit und
Unbesonnenheit ihre Nationalwerke behandelt? Welchen
unsrer Classiker kennt und ehrt denn das Volk? Wel-
chen können wir ihm nennen, den es als untadel-
haftes Muster gelten ließe? So fehlt es der Mehr-
zahl unter uns nicht nur an allem Geschmack und
Kunstgefühl, so wie an aller Sicherheit des Urtheils
über Kunstwerth ächter Geisteswerke, sondern -- was
das Schlimmste ist -- es fehlt uns auch das Mittel,
diesem Mangel zu begegnen. Die Bildung des Ge-
schmacks und Kunsturtheils einer Nation ist nur da-
durch möglich, daß sie ihre eignen Meisterwerke kennt
und ehrt, und sie von Mund zu Mund fortpflanzt.
Wer aber nennt mir auch nur Eins von unsern teut-
schen Meisterwerken, dem dieses Glück geworden wäre?
Hat nicht das Herrlichste wie das Gemeinste das glei-
che Schicksal der Ephemere? Was kömmt denn unter
uns auch nur zum zweiten Lesen, ich will nicht sagen
auf die zweite Generation? An welchem Werke der
teutschen Kunst sollte also sich der Geschmack unsrer
Nation bilden? Wir setzen dafür unser Heil auf die
Aesthetik, und hoffen schon durch diese es noch zu
zwingen! Aber wir bedenken nicht, daß erstens selbst
die vollendetste Kunsttheorie zwar das Kunsturtheil
schärfen und berichtigen, Kunstgefühl aber nicht ge-
ben kann; zweitens aber unsre Aesthetik selbst in der
höchsten Verwirrung und im Streit, und mit nichts

Dritter Abſchnitt.
herrſcht in dem oͤffentlichen Urtheil uͤber Geiſteswerke?
Mit welcher Frivolitaͤt werden die erſten Geiſter unſrer
Nation in unſrer Mitte ſelbſt herabgeſetzt? Welche
andre Nation hat mit gleicher Geringſchaͤtzigkeit und
Unbeſonnenheit ihre Nationalwerke behandelt? Welchen
unſrer Claſſiker kennt und ehrt denn das Volk? Wel-
chen koͤnnen wir ihm nennen, den es als untadel-
haftes Muſter gelten ließe? So fehlt es der Mehr-
zahl unter uns nicht nur an allem Geſchmack und
Kunſtgefuͤhl, ſo wie an aller Sicherheit des Urtheils
uͤber Kunſtwerth aͤchter Geiſteswerke, ſondern — was
das Schlimmſte iſt — es fehlt uns auch das Mittel,
dieſem Mangel zu begegnen. Die Bildung des Ge-
ſchmacks und Kunſturtheils einer Nation iſt nur da-
durch moͤglich, daß ſie ihre eignen Meiſterwerke kennt
und ehrt, und ſie von Mund zu Mund fortpflanzt.
Wer aber nennt mir auch nur Eins von unſern teut-
ſchen Meiſterwerken, dem dieſes Gluͤck geworden waͤre?
Hat nicht das Herrlichſte wie das Gemeinſte das glei-
che Schickſal der Ephemere? Was koͤmmt denn unter
uns auch nur zum zweiten Leſen, ich will nicht ſagen
auf die zweite Generation? An welchem Werke der
teutſchen Kunſt ſollte alſo ſich der Geſchmack unſrer
Nation bilden? Wir ſetzen dafuͤr unſer Heil auf die
Aeſthetik, und hoffen ſchon durch dieſe es noch zu
zwingen! Aber wir bedenken nicht, daß erſtens ſelbſt
die vollendetſte Kunſttheorie zwar das Kunſturtheil
ſchaͤrfen und berichtigen, Kunſtgefuͤhl aber nicht ge-
ben kann; zweitens aber unſre Aeſthetik ſelbſt in der
hoͤchſten Verwirrung und im Streit, und mit nichts

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[236/0248] Dritter Abſchnitt. herrſcht in dem oͤffentlichen Urtheil uͤber Geiſteswerke? Mit welcher Frivolitaͤt werden die erſten Geiſter unſrer Nation in unſrer Mitte ſelbſt herabgeſetzt? Welche andre Nation hat mit gleicher Geringſchaͤtzigkeit und Unbeſonnenheit ihre Nationalwerke behandelt? Welchen unſrer Claſſiker kennt und ehrt denn das Volk? Wel- chen koͤnnen wir ihm nennen, den es als untadel- haftes Muſter gelten ließe? So fehlt es der Mehr- zahl unter uns nicht nur an allem Geſchmack und Kunſtgefuͤhl, ſo wie an aller Sicherheit des Urtheils uͤber Kunſtwerth aͤchter Geiſteswerke, ſondern — was das Schlimmſte iſt — es fehlt uns auch das Mittel, dieſem Mangel zu begegnen. Die Bildung des Ge- ſchmacks und Kunſturtheils einer Nation iſt nur da- durch moͤglich, daß ſie ihre eignen Meiſterwerke kennt und ehrt, und ſie von Mund zu Mund fortpflanzt. Wer aber nennt mir auch nur Eins von unſern teut- ſchen Meiſterwerken, dem dieſes Gluͤck geworden waͤre? Hat nicht das Herrlichſte wie das Gemeinſte das glei- che Schickſal der Ephemere? Was koͤmmt denn unter uns auch nur zum zweiten Leſen, ich will nicht ſagen auf die zweite Generation? An welchem Werke der teutſchen Kunſt ſollte alſo ſich der Geſchmack unſrer Nation bilden? Wir ſetzen dafuͤr unſer Heil auf die Aeſthetik, und hoffen ſchon durch dieſe es noch zu zwingen! Aber wir bedenken nicht, daß erſtens ſelbſt die vollendetſte Kunſttheorie zwar das Kunſturtheil ſchaͤrfen und berichtigen, Kunſtgefuͤhl aber nicht ge- ben kann; zweitens aber unſre Aeſthetik ſelbſt in der hoͤchſten Verwirrung und im Streit, und mit nichts

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/248>, abgerufen am 24.11.2024.