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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
eifriger beschäftiget ist, als die Kunstwerke unsrer Na-
tion herabzuwürdigen, das Vertrauen zu denselben zu
zerstören, und so den sichersten Maßstab des nationa-
len Kunsturtheils zu verdrängen, um ein Gewirr ge-
wagter Kunstregeln dafür an die Stelle zu setzen. --
In diesem Zustande bedürfen wir nichts dringender als
Kunstmuster, die eine unwidersprochene Auctorität ha-
ben, an denen sich das Kunsturtheil in der Verwor-
renheit unsrer Aesthetik -- in der die Versöhnung des
Kampfes noch am allerweitesten entfernt zu seyn scheint --
einstweilen wenigstens orientiren und aufrecht erhalten
könne. Und diese einzige unangefochtene Rettung
unsres Geschmacks vor unsrer Aesthetik bieten uns nur
die classischen Kunstwerke des Alterthums an. Möge
nur der gute Genius unsrer guten Nation dieses Licht
unter uns nicht verlöschen lassen, daß es uns leuchte,
bis der Tag (unsrer Aesthetik) anbreche und der Mor-
genstern aufgehe in unsern Herzen!

Uns aber bleibt für die Bildung eines National-
geschmacks noch etwas anderes durch den Erziehungs-
unterricht zu thun, nämlich: unsre nationalen Geistes-
werke national zu machen! Dies kann nicht geschehen,
so lange wir nicht das wahrhaft Vortreffliche und wirk-
lich Classische bleibend und fest zu machen suchen, so
lange nicht das Beßte von Munde zu Munde geht, so
lange nicht von Generation zu Generation dasselbe
Meisterwerk fortgepflanzt und geehrt wird, so lange
die unseelige Sucht nach ewigem Wechsel unter uns
wüthet, so lange wir von dem schrecklichen Leseschwin-

Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
eifriger beſchaͤftiget iſt, als die Kunſtwerke unſrer Na-
tion herabzuwuͤrdigen, das Vertrauen zu denſelben zu
zerſtoͤren, und ſo den ſicherſten Maßſtab des nationa-
len Kunſturtheils zu verdraͤngen, um ein Gewirr ge-
wagter Kunſtregeln dafuͤr an die Stelle zu ſetzen. —
In dieſem Zuſtande beduͤrfen wir nichts dringender als
Kunſtmuſter, die eine unwiderſprochene Auctoritaͤt ha-
ben, an denen ſich das Kunſturtheil in der Verwor-
renheit unſrer Aeſthetik — in der die Verſoͤhnung des
Kampfes noch am allerweiteſten entfernt zu ſeyn ſcheint —
einſtweilen wenigſtens orientiren und aufrecht erhalten
koͤnne. Und dieſe einzige unangefochtene Rettung
unſres Geſchmacks vor unſrer Aeſthetik bieten uns nur
die claſſiſchen Kunſtwerke des Alterthums an. Moͤge
nur der gute Genius unſrer guten Nation dieſes Licht
unter uns nicht verloͤſchen laſſen, daß es uns leuchte,
bis der Tag (unſrer Aeſthetik) anbreche und der Mor-
genſtern aufgehe in unſern Herzen!

Uns aber bleibt fuͤr die Bildung eines National-
geſchmacks noch etwas anderes durch den Erziehungs-
unterricht zu thun, naͤmlich: unſre nationalen Geiſtes-
werke national zu machen! Dies kann nicht geſchehen,
ſo lange wir nicht das wahrhaft Vortreffliche und wirk-
lich Claſſiſche bleibend und feſt zu machen ſuchen, ſo
lange nicht das Beßte von Munde zu Munde geht, ſo
lange nicht von Generation zu Generation daſſelbe
Meiſterwerk fortgepflanzt und geehrt wird, ſo lange
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wuͤthet, ſo lange wir von dem ſchrecklichen Leſeſchwin-

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[237/0249] Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. eifriger beſchaͤftiget iſt, als die Kunſtwerke unſrer Na- tion herabzuwuͤrdigen, das Vertrauen zu denſelben zu zerſtoͤren, und ſo den ſicherſten Maßſtab des nationa- len Kunſturtheils zu verdraͤngen, um ein Gewirr ge- wagter Kunſtregeln dafuͤr an die Stelle zu ſetzen. — In dieſem Zuſtande beduͤrfen wir nichts dringender als Kunſtmuſter, die eine unwiderſprochene Auctoritaͤt ha- ben, an denen ſich das Kunſturtheil in der Verwor- renheit unſrer Aeſthetik — in der die Verſoͤhnung des Kampfes noch am allerweiteſten entfernt zu ſeyn ſcheint — einſtweilen wenigſtens orientiren und aufrecht erhalten koͤnne. Und dieſe einzige unangefochtene Rettung unſres Geſchmacks vor unſrer Aeſthetik bieten uns nur die claſſiſchen Kunſtwerke des Alterthums an. Moͤge nur der gute Genius unſrer guten Nation dieſes Licht unter uns nicht verloͤſchen laſſen, daß es uns leuchte, bis der Tag (unſrer Aeſthetik) anbreche und der Mor- genſtern aufgehe in unſern Herzen! Uns aber bleibt fuͤr die Bildung eines National- geſchmacks noch etwas anderes durch den Erziehungs- unterricht zu thun, naͤmlich: unſre nationalen Geiſtes- werke national zu machen! Dies kann nicht geſchehen, ſo lange wir nicht das wahrhaft Vortreffliche und wirk- lich Claſſiſche bleibend und feſt zu machen ſuchen, ſo lange nicht das Beßte von Munde zu Munde geht, ſo lange nicht von Generation zu Generation daſſelbe Meiſterwerk fortgepflanzt und geehrt wird, ſo lange die unſeelige Sucht nach ewigem Wechſel unter uns wuͤthet, ſo lange wir von dem ſchrecklichen Leſeſchwin-

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/249>, abgerufen am 06.05.2024.