Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
betrachten schon in frühster Kindheit lernen soll? Wie
will der Mensch zu reiner Betrachtung, die allein
wahrhaft die Seele hebt und stärkt, sich je aufrichten,
wenn er schon als Kind nichts rein betrachten darf?
Was soll aus der Menschheit werden, wenn wir selbst
durch unsern Unterricht im Kinde schon des Geistes
Flügel lähmen und zerknicken? Das aber thut jene
Einseitigkeit des Philanthropinismus, die selbst den
Gelehrten im Unterricht behandelt wissen will, als wäre
er bestimmt den Pflug zu führen oder an dem Weber-
stuhl zu sitzen, die nicht nur den Lehrling überhaupt
von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit
der Natur in dem sichtbaren Körperreiche beschäftiget,
sondern auch selbst an den Gegenständen der Innen-
welt, die Wohlstandes halber mit zum Unterricht noth-
dürftig beigezogen werden müssen, ihn nicht zu einer
reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr
mit stätem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit
umtreibt, und selbst beim Unterricht über Moral und
Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er sich
des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be-
fleißige! Was können da selbst die geistigen Unter-
richtsgegenstände
zu der so unerlaßlichen Bil-
dung der Humanität
helfen, wenn man auch sie
als bloß zu irdischem Zweck und Gebrauch
bestimmt betrachten und anwenden lehrt?"

Wird diese zweifache Anklage gegen die Einseitig-
keit des Philanthropinismus in Absicht auf den Zweck
des Erziehungsunterrichts einer aufmerksameren Beach-

Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
betrachten ſchon in fruͤhſter Kindheit lernen ſoll? Wie
will der Menſch zu reiner Betrachtung, die allein
wahrhaft die Seele hebt und ſtaͤrkt, ſich je aufrichten,
wenn er ſchon als Kind nichts rein betrachten darf?
Was ſoll aus der Menſchheit werden, wenn wir ſelbſt
durch unſern Unterricht im Kinde ſchon des Geiſtes
Fluͤgel laͤhmen und zerknicken? Das aber thut jene
Einſeitigkeit des Philanthropiniſmus, die ſelbſt den
Gelehrten im Unterricht behandelt wiſſen will, als waͤre
er beſtimmt den Pflug zu fuͤhren oder an dem Weber-
ſtuhl zu ſitzen, die nicht nur den Lehrling uͤberhaupt
von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit
der Natur in dem ſichtbaren Koͤrperreiche beſchaͤftiget,
ſondern auch ſelbſt an den Gegenſtaͤnden der Innen-
welt, die Wohlſtandes halber mit zum Unterricht noth-
duͤrftig beigezogen werden muͤſſen, ihn nicht zu einer
reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr
mit ſtaͤtem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit
umtreibt, und ſelbſt beim Unterricht uͤber Moral und
Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er ſich
des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be-
fleißige! Was koͤnnen da ſelbſt die geiſtigen Unter-
richtsgegenſtaͤnde
zu der ſo unerlaßlichen Bil-
dung der Humanitaͤt
helfen, wenn man auch ſie
als bloß zu irdiſchem Zweck und Gebrauch
beſtimmt betrachten und anwenden lehrt?“

Wird dieſe zweifache Anklage gegen die Einſeitig-
keit des Philanthropiniſmus in Abſicht auf den Zweck
des Erziehungsunterrichts einer aufmerkſameren Beach-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0137" n="125"/><fw place="top" type="header">Von d. Grund&#x017F;. d. Erziehungsunterr. im Allgem.</fw><lb/>
betrachten &#x017F;chon in fru&#x0364;h&#x017F;ter Kindheit lernen &#x017F;oll? Wie<lb/>
will der Men&#x017F;ch zu reiner Betrachtung, die allein<lb/>
wahrhaft die Seele hebt und &#x017F;ta&#x0364;rkt, &#x017F;ich je aufrichten,<lb/>
wenn er &#x017F;chon als Kind nichts rein betrachten darf?<lb/>
Was &#x017F;oll aus der Men&#x017F;chheit werden, wenn wir &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durch un&#x017F;ern Unterricht im Kinde &#x017F;chon des Gei&#x017F;tes<lb/>
Flu&#x0364;gel la&#x0364;hmen und zerknicken? Das aber thut jene<lb/>
Ein&#x017F;eitigkeit des Philanthropini&#x017F;mus, die &#x017F;elb&#x017F;t den<lb/>
Gelehrten im Unterricht behandelt wi&#x017F;&#x017F;en will, als wa&#x0364;re<lb/>
er be&#x017F;timmt den Pflug zu fu&#x0364;hren oder an dem Weber-<lb/>
&#x017F;tuhl zu &#x017F;itzen, die nicht nur den Lehrling u&#x0364;berhaupt<lb/>
von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit<lb/>
der Natur in dem &#x017F;ichtbaren Ko&#x0364;rperreiche be&#x017F;cha&#x0364;ftiget,<lb/>
&#x017F;ondern auch &#x017F;elb&#x017F;t an den Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden der Innen-<lb/>
welt, die Wohl&#x017F;tandes halber mit zum Unterricht noth-<lb/>
du&#x0364;rftig beigezogen werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, ihn nicht zu einer<lb/>
reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr<lb/>
mit &#x017F;ta&#x0364;tem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit<lb/>
umtreibt, und &#x017F;elb&#x017F;t beim Unterricht u&#x0364;ber Moral und<lb/>
Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er &#x017F;ich<lb/>
des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be-<lb/>
fleißige! Was ko&#x0364;nnen da &#x017F;elb&#x017F;t die <hi rendition="#g">gei&#x017F;tigen Unter-<lb/>
richtsgegen&#x017F;ta&#x0364;nde</hi> zu der &#x017F;o unerlaßlichen <hi rendition="#g">Bil-<lb/>
dung der Humanita&#x0364;t</hi> helfen, wenn man auch &#x017F;ie<lb/>
als bloß zu <hi rendition="#g">irdi&#x017F;chem Zweck und Gebrauch</hi><lb/>
be&#x017F;timmt betrachten und anwenden lehrt?&#x201C;</p><lb/>
                  <p>Wird die&#x017F;e zweifache Anklage gegen die Ein&#x017F;eitig-<lb/>
keit des Philanthropini&#x017F;mus in Ab&#x017F;icht auf den Zweck<lb/>
des Erziehungsunterrichts einer aufmerk&#x017F;ameren Beach-<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0137] Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. betrachten ſchon in fruͤhſter Kindheit lernen ſoll? Wie will der Menſch zu reiner Betrachtung, die allein wahrhaft die Seele hebt und ſtaͤrkt, ſich je aufrichten, wenn er ſchon als Kind nichts rein betrachten darf? Was ſoll aus der Menſchheit werden, wenn wir ſelbſt durch unſern Unterricht im Kinde ſchon des Geiſtes Fluͤgel laͤhmen und zerknicken? Das aber thut jene Einſeitigkeit des Philanthropiniſmus, die ſelbſt den Gelehrten im Unterricht behandelt wiſſen will, als waͤre er beſtimmt den Pflug zu fuͤhren oder an dem Weber- ſtuhl zu ſitzen, die nicht nur den Lehrling uͤberhaupt von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit der Natur in dem ſichtbaren Koͤrperreiche beſchaͤftiget, ſondern auch ſelbſt an den Gegenſtaͤnden der Innen- welt, die Wohlſtandes halber mit zum Unterricht noth- duͤrftig beigezogen werden muͤſſen, ihn nicht zu einer reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr mit ſtaͤtem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit umtreibt, und ſelbſt beim Unterricht uͤber Moral und Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er ſich des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be- fleißige! Was koͤnnen da ſelbſt die geiſtigen Unter- richtsgegenſtaͤnde zu der ſo unerlaßlichen Bil- dung der Humanitaͤt helfen, wenn man auch ſie als bloß zu irdiſchem Zweck und Gebrauch beſtimmt betrachten und anwenden lehrt?“ Wird dieſe zweifache Anklage gegen die Einſeitig- keit des Philanthropiniſmus in Abſicht auf den Zweck des Erziehungsunterrichts einer aufmerkſameren Beach-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/137
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/137>, abgerufen am 04.05.2024.