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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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spiel unsers Erlösers mehr Gehör gaben, als un-
sern Trieben und Neigungen, als den Vortheilen
der Welt, als dem Beyfall der mächtigen Laster-
haften; wo wir endlich Brüder unsrer Bürder,
Theilnehmer und Beförderer ihrer Freuden, und
Erleichterer ihres Kummers wurden! Wohl uns,
noch einmal, wenn dieser Erinnerungen heute viele
vor unserm Geiste stehen, und uns das stufenweise
Wachsthum unsrer selbst bemerken lassen. Aber
auch -- wie kann ichs verschweigen? -- desto
trauriger, wenn wir uns von dem allen gar wenig
bewußt wären; wenn wir wenig oder gar nicht an
unsre Menschenwürde, an unsern Christenberuf
gedacht, wenig oder nichts zur Verbesserung unsers
edlern Theils gethan, immer dem Strom der Ver-
kehrten und Unweisen nachgeschwommen seyn, im-
mer die kleinen und vergänglichen Sorgen der Erde
den höhern Sorgen vorgezogen, nur uns und un-
serm Vergnügen, und sogar nicht für unsre Brüder
gelebt haben, das heißt mit andern Worten, so
gut als gar nicht gelebt haben sollten. Denn,
kann man wohl sagen, daß noch Leben in der
Pflanze ist, in der alle Säfte stocken; in der sich
nichts entwickelt, nichts zur Zeitigung und Reife
kömmt; die eine Zeit lang bleibt, was sie ist; end-

lich

ſpiel unſers Erlöſers mehr Gehör gaben, als un-
ſern Trieben und Neigungen, als den Vortheilen
der Welt, als dem Beyfall der mächtigen Laſter-
haften; wo wir endlich Brüder unſrer Bürder,
Theilnehmer und Beförderer ihrer Freuden, und
Erleichterer ihres Kummers wurden! Wohl uns,
noch einmal, wenn dieſer Erinnerungen heute viele
vor unſerm Geiſte ſtehen, und uns das ſtufenweiſe
Wachsthum unſrer ſelbſt bemerken laſſen. Aber
auch — wie kann ichs verſchweigen? — deſto
trauriger, wenn wir uns von dem allen gar wenig
bewußt wären; wenn wir wenig oder gar nicht an
unſre Menſchenwürde, an unſern Chriſtenberuf
gedacht, wenig oder nichts zur Verbeſſerung unſers
edlern Theils gethan, immer dem Strom der Ver-
kehrten und Unweiſen nachgeſchwommen ſeyn, im-
mer die kleinen und vergänglichen Sorgen der Erde
den höhern Sorgen vorgezogen, nur uns und un-
ſerm Vergnügen, und ſogar nicht für unſre Brüder
gelebt haben, das heißt mit andern Worten, ſo
gut als gar nicht gelebt haben ſollten. Denn,
kann man wohl ſagen, daß noch Leben in der
Pflanze iſt, in der alle Säfte ſtocken; in der ſich
nichts entwickelt, nichts zur Zeitigung und Reife
kömmt; die eine Zeit lang bleibt, was ſie iſt; end-

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[54[66]/0070] ſpiel unſers Erlöſers mehr Gehör gaben, als un- ſern Trieben und Neigungen, als den Vortheilen der Welt, als dem Beyfall der mächtigen Laſter- haften; wo wir endlich Brüder unſrer Bürder, Theilnehmer und Beförderer ihrer Freuden, und Erleichterer ihres Kummers wurden! Wohl uns, noch einmal, wenn dieſer Erinnerungen heute viele vor unſerm Geiſte ſtehen, und uns das ſtufenweiſe Wachsthum unſrer ſelbſt bemerken laſſen. Aber auch — wie kann ichs verſchweigen? — deſto trauriger, wenn wir uns von dem allen gar wenig bewußt wären; wenn wir wenig oder gar nicht an unſre Menſchenwürde, an unſern Chriſtenberuf gedacht, wenig oder nichts zur Verbeſſerung unſers edlern Theils gethan, immer dem Strom der Ver- kehrten und Unweiſen nachgeſchwommen ſeyn, im- mer die kleinen und vergänglichen Sorgen der Erde den höhern Sorgen vorgezogen, nur uns und un- ſerm Vergnügen, und ſogar nicht für unſre Brüder gelebt haben, das heißt mit andern Worten, ſo gut als gar nicht gelebt haben ſollten. Denn, kann man wohl ſagen, daß noch Leben in der Pflanze iſt, in der alle Säfte ſtocken; in der ſich nichts entwickelt, nichts zur Zeitigung und Reife kömmt; die eine Zeit lang bleibt, was ſie iſt; end- lich

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 54[66]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/70>, abgerufen am 25.11.2024.