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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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zeugt, daß die Versöhnung mit Gott, die Jesus ge-
stiftet hat, in diesem Sinne, nicht das geringste von
ihrem hohen Werthe verliere: vielleicht um so mehr
gewinne, je begreiflicher der Zweck und der Zusam-
menhang der ganzen Begebenheit mit dem Wohl un-
sers Geistes wird.

Wer auch von dieser Seite die Lehre, die die
Versöhnung predigt, für sehr entbehrlich und un-
bedeutend hält; wer da meynt, die natürlichen Be-
griffe von Gott würden den Menschen eben so leicht
zu der beruhigenden Ueberzeugung von der Liebe
Gottes und der Vergebung seiner Schulden führen,
der muß die Geschichte der Menschheit wenig oder
ohne Beobachtungsgeist studirt -- muß die Kräfte
und Bedürfnisse der Menschen wenig kennen ge-
lernt -- muß endlich noch nie bey sich oder andern
bemerkt haben, wie dem geängsteten Gewissen bey
einem nicht erkünstelten, bloß nachgeahmten, son-
dern innigst empfundnen Gefühl seiner Schulden zu
Muthe ist.

Warum sind denn die allermeisten Religionen,
die es unter den Menschen vor den Zeiten Christi
gab, und noch itzt außer dem Christenthum giebt,
darinn einig, daß man Gott zu versöhnen suchen
müsse? Warum kommen sie denn fast alle in Büßun-

gen

zeugt, daß die Verſöhnung mit Gott, die Jeſus ge-
ſtiftet hat, in dieſem Sinne, nicht das geringſte von
ihrem hohen Werthe verliere: vielleicht um ſo mehr
gewinne, je begreiflicher der Zweck und der Zuſam-
menhang der ganzen Begebenheit mit dem Wohl un-
ſers Geiſtes wird.

Wer auch von dieſer Seite die Lehre, die die
Verſöhnung predigt, für ſehr entbehrlich und un-
bedeutend hält; wer da meynt, die natürlichen Be-
griffe von Gott würden den Menſchen eben ſo leicht
zu der beruhigenden Ueberzeugung von der Liebe
Gottes und der Vergebung ſeiner Schulden führen,
der muß die Geſchichte der Menſchheit wenig oder
ohne Beobachtungsgeiſt ſtudirt — muß die Kräfte
und Bedürfniſſe der Menſchen wenig kennen ge-
lernt — muß endlich noch nie bey ſich oder andern
bemerkt haben, wie dem geängſteten Gewiſſen bey
einem nicht erkünſtelten, bloß nachgeahmten, ſon-
dern innigſt empfundnen Gefühl ſeiner Schulden zu
Muthe iſt.

Warum ſind denn die allermeiſten Religionen,
die es unter den Menſchen vor den Zeiten Chriſti
gab, und noch itzt außer dem Chriſtenthum giebt,
darinn einig, daß man Gott zu verſöhnen ſuchen
müſſe? Warum kommen ſie denn faſt alle in Büßun-

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[140[152]/0156] zeugt, daß die Verſöhnung mit Gott, die Jeſus ge- ſtiftet hat, in dieſem Sinne, nicht das geringſte von ihrem hohen Werthe verliere: vielleicht um ſo mehr gewinne, je begreiflicher der Zweck und der Zuſam- menhang der ganzen Begebenheit mit dem Wohl un- ſers Geiſtes wird. Wer auch von dieſer Seite die Lehre, die die Verſöhnung predigt, für ſehr entbehrlich und un- bedeutend hält; wer da meynt, die natürlichen Be- griffe von Gott würden den Menſchen eben ſo leicht zu der beruhigenden Ueberzeugung von der Liebe Gottes und der Vergebung ſeiner Schulden führen, der muß die Geſchichte der Menſchheit wenig oder ohne Beobachtungsgeiſt ſtudirt — muß die Kräfte und Bedürfniſſe der Menſchen wenig kennen ge- lernt — muß endlich noch nie bey ſich oder andern bemerkt haben, wie dem geängſteten Gewiſſen bey einem nicht erkünſtelten, bloß nachgeahmten, ſon- dern innigſt empfundnen Gefühl ſeiner Schulden zu Muthe iſt. Warum ſind denn die allermeiſten Religionen, die es unter den Menſchen vor den Zeiten Chriſti gab, und noch itzt außer dem Chriſtenthum giebt, darinn einig, daß man Gott zu verſöhnen ſuchen müſſe? Warum kommen ſie denn faſt alle in Büßun- gen

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 140[152]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/156>, abgerufen am 20.09.2024.