Ein schlimmerer Widerspruch ist es, daß Livius bald, als Aeußerung der Billigeren unter den Patriciern, ge- steht, die Ansprüche des Volks wären gerecht gewesen 17), bald das Ackergesetz ein Gift der Tribunen 18), ihre Opposition eine Störung des öffentlichen Heils schilt 19), und urtheilt, es habe die blinde Wuth der Menge zu er- regen keiner tribunicischen Bestechungen bedurft 20). Er wäre entschuldigt wenn solche Aeußerungen nur im Sinn eines Redenden oder des gesammten Senats vorkämen. Wo dieses bey ihm geschieht, würde eine Rüge unbillig seyn, wenn nur auch die bittere Leidenschaft des andern Theils sich dem Leser eben so vernehmlich machte. Es würde vielmehr Lob verdienen, weil der träge oder un- erfahrne Leser sich aus den entwickelten Veranlassungen den Zustand der von Partheyleidenschaften aufgeregten Gemüther nicht lebendig vorbilden, also auch diese Stim- mung als wirkende Kraft nicht begreifen kann. Deme- gorieen, aus dem innersten Gefühl des Redenden, er- setzen jene Entwickelungen als etwas weit vollkommne- res. Aber nicht nur sind solche Aeußerungen der ple- bejischen Leidenschaft unendlich seltner eingestreut, son-
17) Ebend. c. 48.
18) Ebend. c. 52. Tribuni plebem agitare suo veneno, agraria lege.
19) Ebend. c. 44. Adversus unum moratorem publici commodi.
20) Ebend. c. 42. Satis superque gratuiti furoris in mul- titudine credentes esse, largitiones, temeritatisque invita- menta horrebant.
B 2
Ein ſchlimmerer Widerſpruch iſt es, daß Livius bald, als Aeußerung der Billigeren unter den Patriciern, ge- ſteht, die Anſpruͤche des Volks waͤren gerecht geweſen 17), bald das Ackergeſetz ein Gift der Tribunen 18), ihre Oppoſition eine Stoͤrung des oͤffentlichen Heils ſchilt 19), und urtheilt, es habe die blinde Wuth der Menge zu er- regen keiner tribuniciſchen Beſtechungen bedurft 20). Er waͤre entſchuldigt wenn ſolche Aeußerungen nur im Sinn eines Redenden oder des geſammten Senats vorkaͤmen. Wo dieſes bey ihm geſchieht, wuͤrde eine Ruͤge unbillig ſeyn, wenn nur auch die bittere Leidenſchaft des andern Theils ſich dem Leſer eben ſo vernehmlich machte. Es wuͤrde vielmehr Lob verdienen, weil der traͤge oder un- erfahrne Leſer ſich aus den entwickelten Veranlaſſungen den Zuſtand der von Partheyleidenſchaften aufgeregten Gemuͤther nicht lebendig vorbilden, alſo auch dieſe Stim- mung als wirkende Kraft nicht begreifen kann. Deme- gorieen, aus dem innerſten Gefuͤhl des Redenden, er- ſetzen jene Entwickelungen als etwas weit vollkommne- res. Aber nicht nur ſind ſolche Aeußerungen der ple- bejiſchen Leidenſchaft unendlich ſeltner eingeſtreut, ſon-
17) Ebend. c. 48.
18) Ebend. c. 52. Tribuni plebem agitare suo veneno, agraria lege.
19) Ebend. c. 44. Adversus unum moratorem publici commodi.
20) Ebend. c. 42. Satis superque gratuiti furoris in mul- titudine credentes esse, largitiones, temeritatisque invita- menta horrebant.
B 2
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0035"n="19"/><p>Ein ſchlimmerer Widerſpruch iſt es, daß Livius bald,<lb/>
als Aeußerung der Billigeren unter den Patriciern, ge-<lb/>ſteht, die Anſpruͤche des Volks waͤren gerecht geweſen <noteplace="foot"n="17)">Ebend. <hirendition="#aq">c.</hi> 48.</note>,<lb/>
bald das Ackergeſetz ein Gift der Tribunen <noteplace="foot"n="18)">Ebend. <hirendition="#aq">c. 52. Tribuni plebem agitare suo veneno,<lb/>
agraria lege</hi>.</note>, ihre<lb/>
Oppoſition eine Stoͤrung des oͤffentlichen Heils ſchilt <noteplace="foot"n="19)">Ebend. <hirendition="#aq">c. 44. Adversus unum moratorem publici<lb/>
commodi</hi>.</note>,<lb/>
und urtheilt, es habe die blinde Wuth der Menge zu er-<lb/>
regen keiner tribuniciſchen Beſtechungen bedurft <noteplace="foot"n="20)">Ebend. <hirendition="#aq">c. 42. Satis superque gratuiti furoris in mul-<lb/>
titudine credentes esse, largitiones, temeritatisque invita-<lb/>
menta horrebant</hi>.</note>. Er<lb/>
waͤre entſchuldigt wenn ſolche Aeußerungen nur im Sinn<lb/>
eines Redenden oder des geſammten Senats vorkaͤmen.<lb/>
Wo dieſes bey ihm geſchieht, wuͤrde eine Ruͤge unbillig<lb/>ſeyn, wenn nur auch die bittere Leidenſchaft des andern<lb/>
Theils ſich dem Leſer eben ſo vernehmlich machte. Es<lb/>
wuͤrde vielmehr Lob verdienen, weil der traͤge oder un-<lb/>
erfahrne Leſer ſich aus den entwickelten Veranlaſſungen<lb/>
den Zuſtand der von Partheyleidenſchaften aufgeregten<lb/>
Gemuͤther nicht lebendig vorbilden, alſo auch dieſe Stim-<lb/>
mung als wirkende Kraft nicht begreifen kann. Deme-<lb/>
gorieen, aus dem innerſten Gefuͤhl des Redenden, er-<lb/>ſetzen jene Entwickelungen als etwas weit vollkommne-<lb/>
res. Aber nicht nur ſind ſolche Aeußerungen der ple-<lb/>
bejiſchen Leidenſchaft unendlich ſeltner eingeſtreut, ſon-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">B 2</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[19/0035]
Ein ſchlimmerer Widerſpruch iſt es, daß Livius bald,
als Aeußerung der Billigeren unter den Patriciern, ge-
ſteht, die Anſpruͤche des Volks waͤren gerecht geweſen 17),
bald das Ackergeſetz ein Gift der Tribunen 18), ihre
Oppoſition eine Stoͤrung des oͤffentlichen Heils ſchilt 19),
und urtheilt, es habe die blinde Wuth der Menge zu er-
regen keiner tribuniciſchen Beſtechungen bedurft 20). Er
waͤre entſchuldigt wenn ſolche Aeußerungen nur im Sinn
eines Redenden oder des geſammten Senats vorkaͤmen.
Wo dieſes bey ihm geſchieht, wuͤrde eine Ruͤge unbillig
ſeyn, wenn nur auch die bittere Leidenſchaft des andern
Theils ſich dem Leſer eben ſo vernehmlich machte. Es
wuͤrde vielmehr Lob verdienen, weil der traͤge oder un-
erfahrne Leſer ſich aus den entwickelten Veranlaſſungen
den Zuſtand der von Partheyleidenſchaften aufgeregten
Gemuͤther nicht lebendig vorbilden, alſo auch dieſe Stim-
mung als wirkende Kraft nicht begreifen kann. Deme-
gorieen, aus dem innerſten Gefuͤhl des Redenden, er-
ſetzen jene Entwickelungen als etwas weit vollkommne-
res. Aber nicht nur ſind ſolche Aeußerungen der ple-
bejiſchen Leidenſchaft unendlich ſeltner eingeſtreut, ſon-
17) Ebend. c. 48.
18) Ebend. c. 52. Tribuni plebem agitare suo veneno,
agraria lege.
19) Ebend. c. 44. Adversus unum moratorem publici
commodi.
20) Ebend. c. 42. Satis superque gratuiti furoris in mul-
titudine credentes esse, largitiones, temeritatisque invita-
menta horrebant.
B 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/35>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.