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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

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dings immer irgend etwas ausgebildet wird was in der
Vorzeit gering geschätzt, also versäumt, und doch unter
seinem Gesichtspunkt auch nicht ohne Werth war. Denn
wenige Zeitalter sind so versunken daß sie nicht ihre eigne
Vorzüglichkeit hätten: an dieser hat man Freude, und
sonst könnte sie nicht da seyn, für das Verschwundne giebt
es keinen Trieb mehr, denn daher verschwand es. Bilde-
ten also auch die Väter der römischen Geschichte ihre Art
an griechischen Geschichtschreibern, so waren es die Zeit-
genossen, oder die von ihnen Gelesensten, in Italien noth-
wendig Timäus: und so konnte wohl kaum eine andre
als die annalistische Form sich ihnen als Muster darbieten.
Sie trugen, wie es aus einzelnen Anführungen bey Dio-
nysius und den capitolinischen Fasten erhellt, diese Form,
soweit sie es vermochten, mit betrügerischer Hand selbst
auf die rein epische Zeit der Könige hinüber: vom Anfang
der Republik fanden sie chronikenmäßige Anzeichnungen
bey den Fasten, die selbst, vor allen die Triumphalfasten,
ohne Zweifel von Alters her wie ein Buch gelesen und im
Gedächtniß eingegraben gewesen sind. Es folgten sich
viele die, ihre Vorgänger tadelnd, alle die ganze Folge
der Geschichte von Aeneas bis auf ihre Zeit schrieben: und
wenn einzelne sich einen Zeitraum aussonderten, wie An-
tipater, Fannius, Sisenna, so scheint doch Sallust das
einzige Beyspiel der Darstellung eines durch innere Ein-
heit abgeschiedenen Ganzen, mit völliger Vernachlässi-
gung der Jahrrechnung und Gleichzeitigkeit, im altgriechi-
schen Sinn, zu geben, dessen die römische Litteratur sich
hätte rühmen gekonnt.


dings immer irgend etwas ausgebildet wird was in der
Vorzeit gering geſchaͤtzt, alſo verſaͤumt, und doch unter
ſeinem Geſichtspunkt auch nicht ohne Werth war. Denn
wenige Zeitalter ſind ſo verſunken daß ſie nicht ihre eigne
Vorzuͤglichkeit haͤtten: an dieſer hat man Freude, und
ſonſt koͤnnte ſie nicht da ſeyn, fuͤr das Verſchwundne giebt
es keinen Trieb mehr, denn daher verſchwand es. Bilde-
ten alſo auch die Vaͤter der roͤmiſchen Geſchichte ihre Art
an griechiſchen Geſchichtſchreibern, ſo waren es die Zeit-
genoſſen, oder die von ihnen Geleſenſten, in Italien noth-
wendig Timaͤus: und ſo konnte wohl kaum eine andre
als die annaliſtiſche Form ſich ihnen als Muſter darbieten.
Sie trugen, wie es aus einzelnen Anfuͤhrungen bey Dio-
nyſius und den capitoliniſchen Faſten erhellt, dieſe Form,
ſoweit ſie es vermochten, mit betruͤgeriſcher Hand ſelbſt
auf die rein epiſche Zeit der Koͤnige hinuͤber: vom Anfang
der Republik fanden ſie chronikenmaͤßige Anzeichnungen
bey den Faſten, die ſelbſt, vor allen die Triumphalfaſten,
ohne Zweifel von Alters her wie ein Buch geleſen und im
Gedaͤchtniß eingegraben geweſen ſind. Es folgten ſich
viele die, ihre Vorgaͤnger tadelnd, alle die ganze Folge
der Geſchichte von Aeneas bis auf ihre Zeit ſchrieben: und
wenn einzelne ſich einen Zeitraum ausſonderten, wie An-
tipater, Fannius, Siſenna, ſo ſcheint doch Salluſt das
einzige Beyſpiel der Darſtellung eines durch innere Ein-
heit abgeſchiedenen Ganzen, mit voͤlliger Vernachlaͤſſi-
gung der Jahrrechnung und Gleichzeitigkeit, im altgriechi-
ſchen Sinn, zu geben, deſſen die roͤmiſche Litteratur ſich
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[2/0018] dings immer irgend etwas ausgebildet wird was in der Vorzeit gering geſchaͤtzt, alſo verſaͤumt, und doch unter ſeinem Geſichtspunkt auch nicht ohne Werth war. Denn wenige Zeitalter ſind ſo verſunken daß ſie nicht ihre eigne Vorzuͤglichkeit haͤtten: an dieſer hat man Freude, und ſonſt koͤnnte ſie nicht da ſeyn, fuͤr das Verſchwundne giebt es keinen Trieb mehr, denn daher verſchwand es. Bilde- ten alſo auch die Vaͤter der roͤmiſchen Geſchichte ihre Art an griechiſchen Geſchichtſchreibern, ſo waren es die Zeit- genoſſen, oder die von ihnen Geleſenſten, in Italien noth- wendig Timaͤus: und ſo konnte wohl kaum eine andre als die annaliſtiſche Form ſich ihnen als Muſter darbieten. Sie trugen, wie es aus einzelnen Anfuͤhrungen bey Dio- nyſius und den capitoliniſchen Faſten erhellt, dieſe Form, ſoweit ſie es vermochten, mit betruͤgeriſcher Hand ſelbſt auf die rein epiſche Zeit der Koͤnige hinuͤber: vom Anfang der Republik fanden ſie chronikenmaͤßige Anzeichnungen bey den Faſten, die ſelbſt, vor allen die Triumphalfaſten, ohne Zweifel von Alters her wie ein Buch geleſen und im Gedaͤchtniß eingegraben geweſen ſind. Es folgten ſich viele die, ihre Vorgaͤnger tadelnd, alle die ganze Folge der Geſchichte von Aeneas bis auf ihre Zeit ſchrieben: und wenn einzelne ſich einen Zeitraum ausſonderten, wie An- tipater, Fannius, Siſenna, ſo ſcheint doch Salluſt das einzige Beyſpiel der Darſtellung eines durch innere Ein- heit abgeſchiedenen Ganzen, mit voͤlliger Vernachlaͤſſi- gung der Jahrrechnung und Gleichzeitigkeit, im altgriechi- ſchen Sinn, zu geben, deſſen die roͤmiſche Litteratur ſich haͤtte ruͤhmen gekonnt.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/18>, abgerufen am 29.03.2024.