Die griechische Geschichte ist in ihrem Ursprung eine Entwicklung der epischen Dichtung: wie die Prosa ih- rer Erzählung ein von allem Zwang befreyter lyrischer Rhythmus. Sie enthielt eine nothwendige geründete Einheit, und schmückte sich mit Episoden: denn es wi- derte ihr das todte Gesetz der Zeitfolge, sogar die Zeit- bestimmung ist ihr gleichgültig: und noch Thukydides, wiewohl er die Erzählung nach dem Umlauf des Jahrs abtheilen mußte, bewahrt den alt epischen Charakter.
Diese Form war zarter als daß sie, da nun ein jeder der zu erzählen hatte Geschichte zu schreiben an- fing, sich lange hätte erhalten können. Xenophon zu- erst fiel in das platte tägliche Leben herab, und bald wurden, weil sie gemächlich waren, flache Ideen über historische Treue, Ordnung und Vollständigkeit herr- schend, welche zu der annalistischen Behandlung auch der längst vergangenen Zeiten führten, die sich in Ti- mäus allgemeiner Geschichte festsetzte.
Es hat vielleicht selbst unter den Griechen, seit der Nation Verfall, keinen Zeitraum gegeben worin die Lit- teratur sich nicht fortschreitend und vervollkommt ge- wähnt hätte. Die Täuschung ist natürlich, weil aller-
Zweiter Theil. A
Die griechiſche Geſchichte iſt in ihrem Urſprung eine Entwicklung der epiſchen Dichtung: wie die Proſa ih- rer Erzaͤhlung ein von allem Zwang befreyter lyriſcher Rhythmus. Sie enthielt eine nothwendige geruͤndete Einheit, und ſchmuͤckte ſich mit Epiſoden: denn es wi- derte ihr das todte Geſetz der Zeitfolge, ſogar die Zeit- beſtimmung iſt ihr gleichguͤltig: und noch Thukydides, wiewohl er die Erzaͤhlung nach dem Umlauf des Jahrs abtheilen mußte, bewahrt den alt epiſchen Charakter.
Dieſe Form war zarter als daß ſie, da nun ein jeder der zu erzaͤhlen hatte Geſchichte zu ſchreiben an- fing, ſich lange haͤtte erhalten koͤnnen. Xenophon zu- erſt fiel in das platte taͤgliche Leben herab, und bald wurden, weil ſie gemaͤchlich waren, flache Ideen uͤber hiſtoriſche Treue, Ordnung und Vollſtaͤndigkeit herr- ſchend, welche zu der annaliſtiſchen Behandlung auch der laͤngſt vergangenen Zeiten fuͤhrten, die ſich in Ti- maͤus allgemeiner Geſchichte feſtſetzte.
Es hat vielleicht ſelbſt unter den Griechen, ſeit der Nation Verfall, keinen Zeitraum gegeben worin die Lit- teratur ſich nicht fortſchreitend und vervollkommt ge- waͤhnt haͤtte. Die Taͤuſchung iſt natuͤrlich, weil aller-
Zweiter Theil. A
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[[1]/0017]
Die griechiſche Geſchichte iſt in ihrem Urſprung eine
Entwicklung der epiſchen Dichtung: wie die Proſa ih-
rer Erzaͤhlung ein von allem Zwang befreyter lyriſcher
Rhythmus. Sie enthielt eine nothwendige geruͤndete
Einheit, und ſchmuͤckte ſich mit Epiſoden: denn es wi-
derte ihr das todte Geſetz der Zeitfolge, ſogar die Zeit-
beſtimmung iſt ihr gleichguͤltig: und noch Thukydides,
wiewohl er die Erzaͤhlung nach dem Umlauf des Jahrs
abtheilen mußte, bewahrt den alt epiſchen Charakter.
Dieſe Form war zarter als daß ſie, da nun ein
jeder der zu erzaͤhlen hatte Geſchichte zu ſchreiben an-
fing, ſich lange haͤtte erhalten koͤnnen. Xenophon zu-
erſt fiel in das platte taͤgliche Leben herab, und bald
wurden, weil ſie gemaͤchlich waren, flache Ideen uͤber
hiſtoriſche Treue, Ordnung und Vollſtaͤndigkeit herr-
ſchend, welche zu der annaliſtiſchen Behandlung auch
der laͤngſt vergangenen Zeiten fuͤhrten, die ſich in Ti-
maͤus allgemeiner Geſchichte feſtſetzte.
Es hat vielleicht ſelbſt unter den Griechen, ſeit der
Nation Verfall, keinen Zeitraum gegeben worin die Lit-
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/17>, abgerufen am 23.11.2024.
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