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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

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Man kann sich nicht treuer an die Annalenform bin-
den als es Livius thut; vielleicht daß sie ihm, vielleicht
weil sie dem Publicum die einzige zulässige schien: er for-
dert Anerkennung daß er alle Episoden vermeide 1). Aber
aus dieser Form entsteht ihm selbst und dem Leser großer
Nachtheil. Indem er jede Jahrgeschichte für sich und in
sich schließt, entgeht das Vergangne seiner Aufmerksam-
keit: seine Erzählung wird nicht nur zerstückt, sie wird
lückenhaft und füllt sich mit Widersprüchen. Der Leser
aber wird sich, wenn er nicht mit Studium liest, ermüdet
durch eine anscheinende Einförmigkeit der Kriege und in-
nern Unruhen, die ganze erste Decade hindurch auch nicht
einmal das verworrene Bild vor Augen stellen können
welches die Geschichte enthält.

Eine kritische Geschichte, wie diese, ist am entfernte-
sten von der sorglosen Lebensfülle der ursprünglichen grie-
chischen Vollkommenheit. Sie muß bey jedem Schritt
anhalten, sich orientiren, sie bahnt anderen den Weg
wo möglich ihn künftig ohne gemessene Behutsamkeit zu
wandeln. Aber sie befreyt sich von dem Zwang der Anna-
lengestalt, und sie faßt, für die bürgerliche Geschichte und
die Kriege, nach inneren Einheiten zusammen was grö-
ßere Zeiträume erfüllt, und sie fordert sich das Recht zu
jeder Episode, welche zu tieferer und schärferer Kenntniß,
und zu hellerer Anschauung nothwendig ist.

Eine solche Einheit bildet der ganze Zeitraum welcher
zwischen Cassius drittem Consulat, und der Decemvirn
Ernennung liegt. Alle innere Bewegungen entstehen aus

1) Livius IX. c. 17.
A 2

Man kann ſich nicht treuer an die Annalenform bin-
den als es Livius thut; vielleicht daß ſie ihm, vielleicht
weil ſie dem Publicum die einzige zulaͤſſige ſchien: er for-
dert Anerkennung daß er alle Epiſoden vermeide 1). Aber
aus dieſer Form entſteht ihm ſelbſt und dem Leſer großer
Nachtheil. Indem er jede Jahrgeſchichte fuͤr ſich und in
ſich ſchließt, entgeht das Vergangne ſeiner Aufmerkſam-
keit: ſeine Erzaͤhlung wird nicht nur zerſtuͤckt, ſie wird
luͤckenhaft und fuͤllt ſich mit Widerſpruͤchen. Der Leſer
aber wird ſich, wenn er nicht mit Studium lieſt, ermuͤdet
durch eine anſcheinende Einfoͤrmigkeit der Kriege und in-
nern Unruhen, die ganze erſte Decade hindurch auch nicht
einmal das verworrene Bild vor Augen ſtellen koͤnnen
welches die Geſchichte enthaͤlt.

Eine kritiſche Geſchichte, wie dieſe, iſt am entfernte-
ſten von der ſorgloſen Lebensfuͤlle der urſpruͤnglichen grie-
chiſchen Vollkommenheit. Sie muß bey jedem Schritt
anhalten, ſich orientiren, ſie bahnt anderen den Weg
wo moͤglich ihn kuͤnftig ohne gemeſſene Behutſamkeit zu
wandeln. Aber ſie befreyt ſich von dem Zwang der Anna-
lengeſtalt, und ſie faßt, fuͤr die buͤrgerliche Geſchichte und
die Kriege, nach inneren Einheiten zuſammen was groͤ-
ßere Zeitraͤume erfuͤllt, und ſie fordert ſich das Recht zu
jeder Epiſode, welche zu tieferer und ſchaͤrferer Kenntniß,
und zu hellerer Anſchauung nothwendig iſt.

Eine ſolche Einheit bildet der ganze Zeitraum welcher
zwiſchen Caſſius drittem Conſulat, und der Decemvirn
Ernennung liegt. Alle innere Bewegungen entſtehen aus

1) Livius IX. c. 17.
A 2
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[3/0019] Man kann ſich nicht treuer an die Annalenform bin- den als es Livius thut; vielleicht daß ſie ihm, vielleicht weil ſie dem Publicum die einzige zulaͤſſige ſchien: er for- dert Anerkennung daß er alle Epiſoden vermeide 1). Aber aus dieſer Form entſteht ihm ſelbſt und dem Leſer großer Nachtheil. Indem er jede Jahrgeſchichte fuͤr ſich und in ſich ſchließt, entgeht das Vergangne ſeiner Aufmerkſam- keit: ſeine Erzaͤhlung wird nicht nur zerſtuͤckt, ſie wird luͤckenhaft und fuͤllt ſich mit Widerſpruͤchen. Der Leſer aber wird ſich, wenn er nicht mit Studium lieſt, ermuͤdet durch eine anſcheinende Einfoͤrmigkeit der Kriege und in- nern Unruhen, die ganze erſte Decade hindurch auch nicht einmal das verworrene Bild vor Augen ſtellen koͤnnen welches die Geſchichte enthaͤlt. Eine kritiſche Geſchichte, wie dieſe, iſt am entfernte- ſten von der ſorgloſen Lebensfuͤlle der urſpruͤnglichen grie- chiſchen Vollkommenheit. Sie muß bey jedem Schritt anhalten, ſich orientiren, ſie bahnt anderen den Weg wo moͤglich ihn kuͤnftig ohne gemeſſene Behutſamkeit zu wandeln. Aber ſie befreyt ſich von dem Zwang der Anna- lengeſtalt, und ſie faßt, fuͤr die buͤrgerliche Geſchichte und die Kriege, nach inneren Einheiten zuſammen was groͤ- ßere Zeitraͤume erfuͤllt, und ſie fordert ſich das Recht zu jeder Epiſode, welche zu tieferer und ſchaͤrferer Kenntniß, und zu hellerer Anſchauung nothwendig iſt. Eine ſolche Einheit bildet der ganze Zeitraum welcher zwiſchen Caſſius drittem Conſulat, und der Decemvirn Ernennung liegt. Alle innere Bewegungen entſtehen aus 1) Livius IX. c. 17. A 2

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/19>, abgerufen am 23.11.2024.