Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite



"in der Nähe einen weiblichen Schrey. Eine Frau,
"mit einem vierteljährigen Kinde im Mantel, schleppte
"sich zu uns, drey kleine Kinder in Lumpen folgten
"ihr. "Mann! was willst du machen!" ,schrie sie,
"und sank halb todt zu meinen Füßen.'

"Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen
"verschmachten sehen!" rief er mit wildem Tone.'

,Jch suchte diese Leute zu besänstigen, ich setzte mich
"zu ihnen nieder, fragte wie sie hieher kämen, und
"was dieß alles bedeuten sollte?'

"Lieber Herr! sagte der Mann, nachdem er ein
"wenig Athem geschöpft hatte, ich bin ein Baum-
"wollenweber. Jch wohnte in einem Flecken in
"Böhmen, ich hatte sonst mein gutes Auskommen,
"aber unser Gutsherr war ein harter Mann, er
"wollte uns nicht Gott nach unserm Glauben dienen
"lassen, wir sollten in die Messe gehen, und wir
"hielten dieß wider unser Gewissen. Jch will mich
"aufmachen, sagte ich, und in ein protestantisches
"Land gehen, wo ich Gewissensfreyheit habe. Jch
"flüchtete, ich kam bis in eine einige Meilen von
"hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen,
"und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es ist
"nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch
"Frau und Kinder ernähren. Jch fieng also an mit

"Mühe



”in der Naͤhe einen weiblichen Schrey. Eine Frau,
”mit einem vierteljaͤhrigen Kinde im Mantel, ſchleppte
”ſich zu uns, drey kleine Kinder in Lumpen folgten
”ihr. „Mann! was willſt du machen!‟ ‚ſchrie ſie,
”und ſank halb todt zu meinen Fuͤßen.‛

„Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen
”verſchmachten ſehen!‟ rief er mit wildem Tone.‛

‚Jch ſuchte dieſe Leute zu beſaͤnſtigen, ich ſetzte mich
”zu ihnen nieder, fragte wie ſie hieher kaͤmen, und
”was dieß alles bedeuten ſollte?‛

„Lieber Herr! ſagte der Mann, nachdem er ein
”wenig Athem geſchoͤpft hatte, ich bin ein Baum-
”wollenweber. Jch wohnte in einem Flecken in
”Boͤhmen, ich hatte ſonſt mein gutes Auskommen,
”aber unſer Gutsherr war ein harter Mann, er
”wollte uns nicht Gott nach unſerm Glauben dienen
”laſſen, wir ſollten in die Meſſe gehen, und wir
”hielten dieß wider unſer Gewiſſen. Jch will mich
”aufmachen, ſagte ich, und in ein proteſtantiſches
”Land gehen, wo ich Gewiſſensfreyheit habe. Jch
”fluͤchtete, ich kam bis in eine einige Meilen von
”hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen,
”und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es iſt
”nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch
”Frau und Kinder ernaͤhren. Jch fieng alſo an mit

”Muͤhe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0070" n="64"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201D;in der Na&#x0364;he einen weiblichen Schrey. Eine Frau,<lb/>
&#x201D;mit einem viertelja&#x0364;hrigen Kinde im Mantel, &#x017F;chleppte<lb/>
&#x201D;&#x017F;ich zu uns, drey kleine Kinder in Lumpen folgten<lb/>
&#x201D;ihr. &#x201E;Mann! was will&#x017F;t du machen!&#x201F; &#x201A;&#x017F;chrie &#x017F;ie,<lb/>
&#x201D;und &#x017F;ank halb todt zu meinen Fu&#x0364;ßen.&#x201B;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen<lb/>
&#x201D;ver&#x017F;chmachten &#x017F;ehen!&#x201F; rief er mit wildem Tone.&#x201B;</p><lb/>
          <p>&#x201A;Jch &#x017F;uchte die&#x017F;e Leute zu be&#x017F;a&#x0364;n&#x017F;tigen, ich &#x017F;etzte mich<lb/>
&#x201D;zu ihnen nieder, fragte wie &#x017F;ie hieher ka&#x0364;men, und<lb/>
&#x201D;was dieß alles bedeuten &#x017F;ollte?&#x201B;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Lieber Herr! &#x017F;agte der Mann, nachdem er ein<lb/>
&#x201D;wenig Athem ge&#x017F;cho&#x0364;pft hatte, ich bin ein Baum-<lb/>
&#x201D;wollenweber. Jch wohnte in einem Flecken in<lb/>
&#x201D;Bo&#x0364;hmen, ich hatte &#x017F;on&#x017F;t mein gutes Auskommen,<lb/>
&#x201D;aber un&#x017F;er Gutsherr war ein harter Mann, er<lb/>
&#x201D;wollte uns nicht Gott nach un&#x017F;erm Glauben dienen<lb/>
&#x201D;la&#x017F;&#x017F;en, wir &#x017F;ollten in die Me&#x017F;&#x017F;e gehen, und wir<lb/>
&#x201D;hielten dieß wider un&#x017F;er Gewi&#x017F;&#x017F;en. Jch will mich<lb/>
&#x201D;aufmachen, &#x017F;agte ich, und in ein prote&#x017F;tanti&#x017F;ches<lb/>
&#x201D;Land gehen, wo ich Gewi&#x017F;&#x017F;ensfreyheit habe. Jch<lb/>
&#x201D;flu&#x0364;chtete, ich kam bis in eine einige Meilen von<lb/>
&#x201D;hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen,<lb/>
&#x201D;und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es i&#x017F;t<lb/>
&#x201D;nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch<lb/>
&#x201D;Frau und Kinder erna&#x0364;hren. Jch fieng al&#x017F;o an mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201D;Mu&#x0364;he</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0070] ”in der Naͤhe einen weiblichen Schrey. Eine Frau, ”mit einem vierteljaͤhrigen Kinde im Mantel, ſchleppte ”ſich zu uns, drey kleine Kinder in Lumpen folgten ”ihr. „Mann! was willſt du machen!‟ ‚ſchrie ſie, ”und ſank halb todt zu meinen Fuͤßen.‛ „Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen ”verſchmachten ſehen!‟ rief er mit wildem Tone.‛ ‚Jch ſuchte dieſe Leute zu beſaͤnſtigen, ich ſetzte mich ”zu ihnen nieder, fragte wie ſie hieher kaͤmen, und ”was dieß alles bedeuten ſollte?‛ „Lieber Herr! ſagte der Mann, nachdem er ein ”wenig Athem geſchoͤpft hatte, ich bin ein Baum- ”wollenweber. Jch wohnte in einem Flecken in ”Boͤhmen, ich hatte ſonſt mein gutes Auskommen, ”aber unſer Gutsherr war ein harter Mann, er ”wollte uns nicht Gott nach unſerm Glauben dienen ”laſſen, wir ſollten in die Meſſe gehen, und wir ”hielten dieß wider unſer Gewiſſen. Jch will mich ”aufmachen, ſagte ich, und in ein proteſtantiſches ”Land gehen, wo ich Gewiſſensfreyheit habe. Jch ”fluͤchtete, ich kam bis in eine einige Meilen von ”hier entfernte Stadt, ich ward wohl aufgenommen, ”und konnte frey in die Kirche gehen. Doch es iſt ”nicht genug in die Kirche zu gehen, man muß auch ”Frau und Kinder ernaͤhren. Jch fieng alſo an mit ”Muͤhe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/70
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/70>, abgerufen am 23.11.2024.