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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

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dern, und mit einem Hirschfänger umgürtet war. Er
würde den Sobaldus nicht angesehen haben, wenn
dieser ihn nicht bey der Hand genommen, und ihn
also angeredet hätte:

,Ach! Sie haben wohl recht, daß in dieser Stadt
"alle christliche Liebe erloschen ist. Aus den Häusern
"weiset man mich weg, und auf der Straße bin ich
"unter hundert Menschen, die vor mir vorbey ihren
"Vergnügungen oder Geschäfften nacheilen, eben so
"einsam, als in einer Wüste. Der Tag fängt sich
"an zu neigen, und ich weiß noch nicht, wo ich ein
"Obdach finden soll. Großer Gott! was soll aus mir
"werden?'

,Ja freylich, sagte der Pietist, wo die seligma-
"chende Gnade nicht ist, da ist keine Liebe; aber ein
"guter Christ muß doch nicht verzagen. Wissen Sie
"was? wenn es dunkler wird, so gesellen Sie sich zu
"den Nachtwächtern, und gehen mit ihnen auf eine
"Hauptwache, da können Sie schlafen. Morgen
"früh wird sich wohl etwas finden. Leben Sie wohl,
"ich muß eilen.'

Sebaldus wollte ihn noch aufhalten, aber er riß
sich los; denn er sollte einem jungen Herrn noch heute
unverzüglich Geld verschaffen, und das Pfand war
sehr sicher.

Sebal-



dern, und mit einem Hirſchfaͤnger umguͤrtet war. Er
wuͤrde den Sobaldus nicht angeſehen haben, wenn
dieſer ihn nicht bey der Hand genommen, und ihn
alſo angeredet haͤtte:

‚Ach! Sie haben wohl recht, daß in dieſer Stadt
”alle chriſtliche Liebe erloſchen iſt. Aus den Haͤuſern
”weiſet man mich weg, und auf der Straße bin ich
”unter hundert Menſchen, die vor mir vorbey ihren
”Vergnuͤgungen oder Geſchaͤfften nacheilen, eben ſo
”einſam, als in einer Wuͤſte. Der Tag faͤngt ſich
”an zu neigen, und ich weiß noch nicht, wo ich ein
”Obdach finden ſoll. Großer Gott! was ſoll aus mir
”werden?‛

‚Ja freylich, ſagte der Pietiſt, wo die ſeligma-
”chende Gnade nicht iſt, da iſt keine Liebe; aber ein
”guter Chriſt muß doch nicht verzagen. Wiſſen Sie
”was? wenn es dunkler wird, ſo geſellen Sie ſich zu
”den Nachtwaͤchtern, und gehen mit ihnen auf eine
”Hauptwache, da koͤnnen Sie ſchlafen. Morgen
”fruͤh wird ſich wohl etwas finden. Leben Sie wohl,
”ich muß eilen.‛

Sebaldus wollte ihn noch aufhalten, aber er riß
ſich los; denn er ſollte einem jungen Herrn noch heute
unverzuͤglich Geld verſchaffen, und das Pfand war
ſehr ſicher.

Sebal-
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[40/0046] dern, und mit einem Hirſchfaͤnger umguͤrtet war. Er wuͤrde den Sobaldus nicht angeſehen haben, wenn dieſer ihn nicht bey der Hand genommen, und ihn alſo angeredet haͤtte: ‚Ach! Sie haben wohl recht, daß in dieſer Stadt ”alle chriſtliche Liebe erloſchen iſt. Aus den Haͤuſern ”weiſet man mich weg, und auf der Straße bin ich ”unter hundert Menſchen, die vor mir vorbey ihren ”Vergnuͤgungen oder Geſchaͤfften nacheilen, eben ſo ”einſam, als in einer Wuͤſte. Der Tag faͤngt ſich ”an zu neigen, und ich weiß noch nicht, wo ich ein ”Obdach finden ſoll. Großer Gott! was ſoll aus mir ”werden?‛ ‚Ja freylich, ſagte der Pietiſt, wo die ſeligma- ”chende Gnade nicht iſt, da iſt keine Liebe; aber ein ”guter Chriſt muß doch nicht verzagen. Wiſſen Sie ”was? wenn es dunkler wird, ſo geſellen Sie ſich zu ”den Nachtwaͤchtern, und gehen mit ihnen auf eine ”Hauptwache, da koͤnnen Sie ſchlafen. Morgen ”fruͤh wird ſich wohl etwas finden. Leben Sie wohl, ”ich muß eilen.‛ Sebaldus wollte ihn noch aufhalten, aber er riß ſich los; denn er ſollte einem jungen Herrn noch heute unverzuͤglich Geld verſchaffen, und das Pfand war ſehr ſicher. Sebal-

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/46>, abgerufen am 25.11.2024.