Als einst die Frau von Ehrenkolb Mittagsruhe hielt, und die übrige Gesellschaft im Garten spazie- ren gieng, ergriff die Gräfinn Säuglings Arm, führte ihn in einen Gang besonders, und nach- dem sie das Gespräch auf Lektur gebracht, sagte sie ihm gerade heraus: , Gedichte wären nicht die Lek- "tur, die sie am meisten liebte.'
Säugling, nicht wenig beschämt und bestürzt, ver- setzte mit stammlender Stimme: ,Ew. Gnaden scher- "zen vielleicht. Es schien mir doch sonst, als ob Sie "die schönen Wissenschaften liebten.'
Gr. O ja! ich liebe sie ungemein. Aber Sie wissen, die schönen Wissenschaften haben einen wei- ten Umfang, und die Dichtkunst ist nur ein Theil davon. Diesen zu hassen, bin ich weit entfernt. Jch liebe vielmehr Gedichte herzlich, wenn sie ganz vor- trefflich sind, sie wirken mit unbeschreiblichem Reize auf mich, sie bleiben meiner Seele tief eingeprägt. Aber sie wissen, der ganz vortrefflichen Gedichte sind nur sehr wenige. Was die übrigen anbetrifft, so sind sie ganz gute Dingerchen, die man wohl einmal anhören, aber auch entbehren kann; und mich dünkt immer, die Augenbraunen sind einem leichter, wenn man sie entbehrt.
S.
Als einſt die Frau von Ehrenkolb Mittagsruhe hielt, und die uͤbrige Geſellſchaft im Garten ſpazie- ren gieng, ergriff die Graͤfinn Saͤuglings Arm, fuͤhrte ihn in einen Gang beſonders, und nach- dem ſie das Geſpraͤch auf Lektur gebracht, ſagte ſie ihm gerade heraus: ‚ Gedichte waͤren nicht die Lek- ”tur, die ſie am meiſten liebte.‛
Saͤugling, nicht wenig beſchaͤmt und beſtuͤrzt, ver- ſetzte mit ſtammlender Stimme: ‚Ew. Gnaden ſcher- ”zen vielleicht. Es ſchien mir doch ſonſt, als ob Sie ”die ſchoͤnen Wiſſenſchaften liebten.‛
Gr. O ja! ich liebe ſie ungemein. Aber Sie wiſſen, die ſchoͤnen Wiſſenſchaften haben einen wei- ten Umfang, und die Dichtkunſt iſt nur ein Theil davon. Dieſen zu haſſen, bin ich weit entfernt. Jch liebe vielmehr Gedichte herzlich, wenn ſie ganz vor- trefflich ſind, ſie wirken mit unbeſchreiblichem Reize auf mich, ſie bleiben meiner Seele tief eingepraͤgt. Aber ſie wiſſen, der ganz vortrefflichen Gedichte ſind nur ſehr wenige. Was die uͤbrigen anbetrifft, ſo ſind ſie ganz gute Dingerchen, die man wohl einmal anhoͤren, aber auch entbehren kann; und mich duͤnkt immer, die Augenbraunen ſind einem leichter, wenn man ſie entbehrt.
S.
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Als einſt die Frau von Ehrenkolb Mittagsruhe
hielt, und die uͤbrige Geſellſchaft im Garten ſpazie-
ren gieng, ergriff die Graͤfinn Saͤuglings Arm,
fuͤhrte ihn in einen Gang beſonders, und nach-
dem ſie das Geſpraͤch auf Lektur gebracht, ſagte ſie
ihm gerade heraus: ‚ Gedichte waͤren nicht die Lek-
”tur, die ſie am meiſten liebte.‛
Saͤugling, nicht wenig beſchaͤmt und beſtuͤrzt, ver-
ſetzte mit ſtammlender Stimme: ‚Ew. Gnaden ſcher-
”zen vielleicht. Es ſchien mir doch ſonſt, als ob Sie
”die ſchoͤnen Wiſſenſchaften liebten.‛
Gr. O ja! ich liebe ſie ungemein. Aber Sie
wiſſen, die ſchoͤnen Wiſſenſchaften haben einen wei-
ten Umfang, und die Dichtkunſt iſt nur ein Theil
davon. Dieſen zu haſſen, bin ich weit entfernt. Jch
liebe vielmehr Gedichte herzlich, wenn ſie ganz vor-
trefflich ſind, ſie wirken mit unbeſchreiblichem Reize
auf mich, ſie bleiben meiner Seele tief eingepraͤgt.
Aber ſie wiſſen, der ganz vortrefflichen Gedichte ſind
nur ſehr wenige. Was die uͤbrigen anbetrifft, ſo ſind
ſie ganz gute Dingerchen, die man wohl einmal
anhoͤren, aber auch entbehren kann; und mich duͤnkt
immer, die Augenbraunen ſind einem leichter, wenn
man ſie entbehrt.
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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/180>, abgerufen am 16.02.2025.
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