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Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 3. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1823.

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Und das that ich denn auch, nachdem ich zuvor
noch selbst nach dem Prahm gesehen und fernern
Rath und Anschlag gegeben.

Wiederum, und nicht lange darnach, begab
sich's, daß kurz vor der Weihnachtszeit ein Glöck-
ner in der Stadt vermißt wurde, nachdem er --
vielleicht etwas angetrunken -- auf die Lauen-
burger Vorstadt geschickt worden, um, als Kir-
chendiener, fällige Landmiethe einzufordern. Zwar
hatt' er, gegen die Abendzeit, den Heimweg wieder
angetreten: aber wo er zuletzt geblieben, war auf
keine Weise zu ermitteln. Endlich, am Nach-
mittag des heiligen Abends vor Weihnachten,
erscholl das Gerücht, der arme Mensch liege, ohn-
weit der zweiten kleinen Brücke, todt im Wall-
graben, mitten im Rohr, wohinab er von dem
steilen, mit Glatteis überzogenen Walle gepur-
zelt seyn mochte.

Voll Mitleids lief ich hinzu, und fand bereits
die Brücke mit unzähligen Menschen aus allen
Ständen besetzt, welche Alle nach dem Ertrunke-
nen hingafften, ohne irgend eine hülfreiche Hand
anzuschlagen. "Aber, lieben Leute," -- wandt'
ich mich an einige nächststehende Bürger -- "War-
um wird der Leichnam nicht herausgeschafft? Wir
wollen da nicht lange säumen -- Kommt und
helft mir!" -- Allein sie verzogen die Mäuler;
murmelten etwas, das so klang, als wollten sie
sich damit nicht "unehrlich" machen und dem
Henkersknecht vorgreifen; und Einer nach dem

Und das that ich denn auch, nachdem ich zuvor
noch ſelbſt nach dem Prahm geſehen und fernern
Rath und Anſchlag gegeben.

Wiederum, und nicht lange darnach, begab
ſich’s, daß kurz vor der Weihnachtszeit ein Gloͤck-
ner in der Stadt vermißt wurde, nachdem er —
vielleicht etwas angetrunken — auf die Lauen-
burger Vorſtadt geſchickt worden, um, als Kir-
chendiener, faͤllige Landmiethe einzufordern. Zwar
hatt’ er, gegen die Abendzeit, den Heimweg wieder
angetreten: aber wo er zuletzt geblieben, war auf
keine Weiſe zu ermitteln. Endlich, am Nach-
mittag des heiligen Abends vor Weihnachten,
erſcholl das Geruͤcht, der arme Menſch liege, ohn-
weit der zweiten kleinen Bruͤcke, todt im Wall-
graben, mitten im Rohr, wohinab er von dem
ſteilen, mit Glatteis uͤberzogenen Walle gepur-
zelt ſeyn mochte.

Voll Mitleids lief ich hinzu, und fand bereits
die Bruͤcke mit unzaͤhligen Menſchen aus allen
Staͤnden beſetzt, welche Alle nach dem Ertrunke-
nen hingafften, ohne irgend eine huͤlfreiche Hand
anzuſchlagen. „Aber, lieben Leute,‟ — wandt’
ich mich an einige naͤchſtſtehende Buͤrger — „War-
um wird der Leichnam nicht herausgeſchafft? Wir
wollen da nicht lange ſaͤumen — Kommt und
helft mir!‟ — Allein ſie verzogen die Maͤuler;
murmelten etwas, das ſo klang, als wollten ſie
ſich damit nicht „unehrlich‟ machen und dem
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[14/0030] Und das that ich denn auch, nachdem ich zuvor noch ſelbſt nach dem Prahm geſehen und fernern Rath und Anſchlag gegeben. Wiederum, und nicht lange darnach, begab ſich’s, daß kurz vor der Weihnachtszeit ein Gloͤck- ner in der Stadt vermißt wurde, nachdem er — vielleicht etwas angetrunken — auf die Lauen- burger Vorſtadt geſchickt worden, um, als Kir- chendiener, faͤllige Landmiethe einzufordern. Zwar hatt’ er, gegen die Abendzeit, den Heimweg wieder angetreten: aber wo er zuletzt geblieben, war auf keine Weiſe zu ermitteln. Endlich, am Nach- mittag des heiligen Abends vor Weihnachten, erſcholl das Geruͤcht, der arme Menſch liege, ohn- weit der zweiten kleinen Bruͤcke, todt im Wall- graben, mitten im Rohr, wohinab er von dem ſteilen, mit Glatteis uͤberzogenen Walle gepur- zelt ſeyn mochte. Voll Mitleids lief ich hinzu, und fand bereits die Bruͤcke mit unzaͤhligen Menſchen aus allen Staͤnden beſetzt, welche Alle nach dem Ertrunke- nen hingafften, ohne irgend eine huͤlfreiche Hand anzuſchlagen. „Aber, lieben Leute,‟ — wandt’ ich mich an einige naͤchſtſtehende Buͤrger — „War- um wird der Leichnam nicht herausgeſchafft? Wir wollen da nicht lange ſaͤumen — Kommt und helft mir!‟ — Allein ſie verzogen die Maͤuler; murmelten etwas, das ſo klang, als wollten ſie ſich damit nicht „unehrlich‟ machen und dem Henkersknecht vorgreifen; und Einer nach dem

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Zitationshilfe: Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 3. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1823, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung03_1823/30>, abgerufen am 29.03.2024.