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Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 2. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821.

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halber Ohnmacht, am Halse und in den Ar-
men eines unscheinbaren Fremden zu erblicken.
Er sprang herzu; fragte, was es gebe, und
fand sie eben so wenig im Stande, ihm eine
Antwort zu stammlen, als ich selbst mich, vor
inniger Rührung, vermögend fühlte, ihn zu
befriedigen. Endlich erholte sie sich in dem
Maasse, ihm zuzurufen: "Mein Kind, dies
ist der Mann, von dem ich dir so oft er-
zählt habe -- der erste Urheber meines
Glücks -- der ehrliche Nettelbeck, der sich
in Königsberg Meiner annahm. O Gott!" --

Mehr konnte sie nicht sagen, weil eine
neue Schwäche sie anwandelte. Der Gatte
und ich nahmen sie unter beide Arme und
führten sie in das anstoßende Zimmer zu ei-
nem Kanapee, wo denn der Aufruhr in ihrer
Seele sich allmählig wieder beruhigte. Nun
jagten sich tausend verwirrte Fragen --
Wie es mir gehe? was ich treibe? wie ich
hieher nach Suriname komme? -- und war
nicht eher befriedigt, als bis ich ihr in der
Kürze meine neuesten Lebensschicksale erzählt
hatte. Eben so unersättlich war sie in Er-
kundigungen nach dem Ergehen ihrer Eltern,
von denen sie seit zwei Jahren keine Kunde
erhalten habe. Jch war zwar selbst bereits
seit vier Jahren von Königsberg abwesend,
und konnte sie hierüber nur wenig befriedi-
gen: doch sagte ich, was ich wußte: Daß

halber Ohnmacht, am Halſe und in den Ar-
men eines unſcheinbaren Fremden zu erblicken.
Er ſprang herzu; fragte, was es gebe, und
fand ſie eben ſo wenig im Stande, ihm eine
Antwort zu ſtammlen, als ich ſelbſt mich, vor
inniger Ruͤhrung, vermoͤgend fuͤhlte, ihn zu
befriedigen. Endlich erholte ſie ſich in dem
Maaſſe, ihm zuzurufen: „Mein Kind, dies
iſt der Mann, von dem ich dir ſo oft er-
zaͤhlt habe — der erſte Urheber meines
Gluͤcks — der ehrliche Nettelbeck, der ſich
in Koͤnigsberg Meiner annahm. O Gott!‟ —

Mehr konnte ſie nicht ſagen, weil eine
neue Schwaͤche ſie anwandelte. Der Gatte
und ich nahmen ſie unter beide Arme und
fuͤhrten ſie in das anſtoßende Zimmer zu ei-
nem Kanapee, wo denn der Aufruhr in ihrer
Seele ſich allmaͤhlig wieder beruhigte. Nun
jagten ſich tauſend verwirrte Fragen —
Wie es mir gehe? was ich treibe? wie ich
hieher nach Suriname komme? — und war
nicht eher befriedigt, als bis ich ihr in der
Kuͤrze meine neueſten Lebensſchickſale erzaͤhlt
hatte. Eben ſo unerſaͤttlich war ſie in Er-
kundigungen nach dem Ergehen ihrer Eltern,
von denen ſie ſeit zwei Jahren keine Kunde
erhalten habe. Jch war zwar ſelbſt bereits
ſeit vier Jahren von Koͤnigsberg abweſend,
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gen: doch ſagte ich, was ich wußte: Daß

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[102/0106] halber Ohnmacht, am Halſe und in den Ar- men eines unſcheinbaren Fremden zu erblicken. Er ſprang herzu; fragte, was es gebe, und fand ſie eben ſo wenig im Stande, ihm eine Antwort zu ſtammlen, als ich ſelbſt mich, vor inniger Ruͤhrung, vermoͤgend fuͤhlte, ihn zu befriedigen. Endlich erholte ſie ſich in dem Maaſſe, ihm zuzurufen: „Mein Kind, dies iſt der Mann, von dem ich dir ſo oft er- zaͤhlt habe — der erſte Urheber meines Gluͤcks — der ehrliche Nettelbeck, der ſich in Koͤnigsberg Meiner annahm. O Gott!‟ — Mehr konnte ſie nicht ſagen, weil eine neue Schwaͤche ſie anwandelte. Der Gatte und ich nahmen ſie unter beide Arme und fuͤhrten ſie in das anſtoßende Zimmer zu ei- nem Kanapee, wo denn der Aufruhr in ihrer Seele ſich allmaͤhlig wieder beruhigte. Nun jagten ſich tauſend verwirrte Fragen — Wie es mir gehe? was ich treibe? wie ich hieher nach Suriname komme? — und war nicht eher befriedigt, als bis ich ihr in der Kuͤrze meine neueſten Lebensſchickſale erzaͤhlt hatte. Eben ſo unerſaͤttlich war ſie in Er- kundigungen nach dem Ergehen ihrer Eltern, von denen ſie ſeit zwei Jahren keine Kunde erhalten habe. Jch war zwar ſelbſt bereits ſeit vier Jahren von Koͤnigsberg abweſend, und konnte ſie hieruͤber nur wenig befriedi- gen: doch ſagte ich, was ich wußte: Daß

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Zitationshilfe: Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 2. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung02_1821/106>, abgerufen am 01.05.2024.