Märsche ungewohnt, hatten die Füße voller Blasen und fanden sich auch anderweitig un- bequem; so daß mir's immer schwerer fiel, sie des Weges vorwärts zu bringen. Gieng ich meinen guten Schritt vorweg und sah dann hinter mich, so war der Eine noch im- mer weiter, als der Andre, zurückgeblieben. Bat ich sie, sich zu fördern: -- sie wollten nicht, sie konnten nicht; sie weinten. Es gedieh endlich so weit damit, daß mein Bru- der auf einem Düngerhaufen am Wege sitzen blieb und unter heißen Thränen betheuerte: Jetzt vermöchte er nicht weiter; ich möchte nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt' ich ihm von unserm Gelde nichts zukommen lassen, so möcht' es darum seyn. Es sey ihm ohnehin so zu Sinne, als müss' er hier sitzen bleiben und Hungers sterben.
Meine Angst war unaussprechlich. Jch weinte mit ihm um die Wette; ich tröstete, ich versprach ihm goldene Berge, wenn er nur aufstehen und es versuchen wollte, mit mir fort zu humpeln. Nur bis aus nächste Dorf noch sollt' er sich fortschleppen, bevor es Abend würde. Morgen wollten wir ein Fuhrwerk nehmen, und Alles sollte besser werden. Unter solchem kräftigen Zureden nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er
1. Bändchen. (6)
Maͤrſche ungewohnt, hatten die Fuͤße voller Blaſen und fanden ſich auch anderweitig un- bequem; ſo daß mir’s immer ſchwerer fiel, ſie des Weges vorwaͤrts zu bringen. Gieng ich meinen guten Schritt vorweg und ſah dann hinter mich, ſo war der Eine noch im- mer weiter, als der Andre, zuruͤckgeblieben. Bat ich ſie, ſich zu foͤrdern: — ſie wollten nicht, ſie konnten nicht; ſie weinten. Es gedieh endlich ſo weit damit, daß mein Bru- der auf einem Duͤngerhaufen am Wege ſitzen blieb und unter heißen Thraͤnen betheuerte: Jetzt vermoͤchte er nicht weiter; ich moͤchte nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt’ ich ihm von unſerm Gelde nichts zukommen laſſen, ſo moͤcht’ es darum ſeyn. Es ſey ihm ohnehin ſo zu Sinne, als muͤſſ’ er hier ſitzen bleiben und Hungers ſterben.
Meine Angſt war unausſprechlich. Jch weinte mit ihm um die Wette; ich troͤſtete, ich verſprach ihm goldene Berge, wenn er nur aufſtehen und es verſuchen wollte, mit mir fort zu humpeln. Nur bis aus naͤchſte Dorf noch ſollt’ er ſich fortſchleppen, bevor es Abend wuͤrde. Morgen wollten wir ein Fuhrwerk nehmen, und Alles ſollte beſſer werden. Unter ſolchem kraͤftigen Zureden nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er
1. Bändchen. (6)
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Maͤrſche ungewohnt, hatten die Fuͤße voller
Blaſen und fanden ſich auch anderweitig un-
bequem; ſo daß mir’s immer ſchwerer fiel,
ſie des Weges vorwaͤrts zu bringen. Gieng
ich meinen guten Schritt vorweg und ſah
dann hinter mich, ſo war der Eine noch im-
mer weiter, als der Andre, zuruͤckgeblieben.
Bat ich ſie, ſich zu foͤrdern: — ſie wollten
nicht, ſie konnten nicht; ſie weinten. Es
gedieh endlich ſo weit damit, daß mein Bru-
der auf einem Duͤngerhaufen am Wege ſitzen
blieb und unter heißen Thraͤnen betheuerte:
Jetzt vermoͤchte er nicht weiter; ich moͤchte
nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt’
ich ihm von unſerm Gelde nichts zukommen
laſſen, ſo moͤcht’ es darum ſeyn. Es ſey
ihm ohnehin ſo zu Sinne, als muͤſſ’ er hier
ſitzen bleiben und Hungers ſterben.
Meine Angſt war unausſprechlich. Jch
weinte mit ihm um die Wette; ich troͤſtete,
ich verſprach ihm goldene Berge, wenn er
nur aufſtehen und es verſuchen wollte, mit
mir fort zu humpeln. Nur bis aus naͤchſte
Dorf noch ſollt’ er ſich fortſchleppen, bevor
es Abend wuͤrde. Morgen wollten wir ein
Fuhrwerk nehmen, und Alles ſollte beſſer
werden. Unter ſolchem kraͤftigen Zureden
nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte
mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er
1. Bändchen. (6)
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Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/97>, abgerufen am 16.02.2025.
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