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Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821.

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gen, nichts in und wenig auf dem Leibe,
in dieser rauhen Jahreszeit, ohne Trost oder
Hülfe von Menschen! Betteln konnten
und wollten wir nicht: lieber hätten wir hier
auf dieser Grabes-Erde des geliebten Hin-
geschiedenen gleichfalls verscheiden und ver-
schmachten mögen! Er allein war in diesen
trostlosen Augenblicken unser Gedanke und
unsre Zuflucht. "O Vatersbruder, erbarmt
Euch!" riefen wir unaufhörlich, bis wir
uns müde geschrieen hatten und das Thö-
richte unsers Beginnens einsahen.

Jetzt erst konnten wir uns unter einan-
der berathen, was wir in dieser unsrer gänz-
lichen Verlassenheit anzufangen hätten? Der
Schluß fiel dahinaus, daß wir des nächsten
Morgens zu unserm Schiff und unsern an-
dern Kameraden zurückkehren wollten. Wo
diese blieben, wollten auch wir bleiben und
ihr Schicksal mit ihnen theilen. Unser ein-
ziger und letzter Nothanker aber war des
verstorbenen Oheims Taschenuhr, die wir an
uns genommen hatten und, wenn uns zuletzt
das Wasser an die Seele gienge, loszuschla-
gen gedachten. Ob dies schon im rothen
Löwen würde geschehen müssen, wohin wir
nun zunächst zurückkehrten, sollten wir als-
bald erfahren. Gesättigt und durch einigen
Schlaf erquickt, kam denn auch am Morgen

gen, nichts in und wenig auf dem Leibe,
in dieſer rauhen Jahreszeit, ohne Troſt oder
Huͤlfe von Menſchen! Betteln konnten
und wollten wir nicht: lieber haͤtten wir hier
auf dieſer Grabes-Erde des geliebten Hin-
geſchiedenen gleichfalls verſcheiden und ver-
ſchmachten moͤgen! Er allein war in dieſen
troſtloſen Augenblicken unſer Gedanke und
unſre Zuflucht. „O Vatersbruder, erbarmt
Euch!‟ riefen wir unaufhoͤrlich, bis wir
uns muͤde geſchrieen hatten und das Thoͤ-
richte unſers Beginnens einſahen.

Jetzt erſt konnten wir uns unter einan-
der berathen, was wir in dieſer unſrer gaͤnz-
lichen Verlaſſenheit anzufangen haͤtten? Der
Schluß fiel dahinaus, daß wir des naͤchſten
Morgens zu unſerm Schiff und unſern an-
dern Kameraden zuruͤckkehren wollten. Wo
dieſe blieben, wollten auch wir bleiben und
ihr Schickſal mit ihnen theilen. Unſer ein-
ziger und letzter Nothanker aber war des
verſtorbenen Oheims Taſchenuhr, die wir an
uns genommen hatten und, wenn uns zuletzt
das Waſſer an die Seele gienge, loszuſchla-
gen gedachten. Ob dies ſchon im rothen
Loͤwen wuͤrde geſchehen muͤſſen, wohin wir
nun zunaͤchſt zuruͤckkehrten, ſollten wir als-
bald erfahren. Geſaͤttigt und durch einigen
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[59/0075] gen, nichts in und wenig auf dem Leibe, in dieſer rauhen Jahreszeit, ohne Troſt oder Huͤlfe von Menſchen! Betteln konnten und wollten wir nicht: lieber haͤtten wir hier auf dieſer Grabes-Erde des geliebten Hin- geſchiedenen gleichfalls verſcheiden und ver- ſchmachten moͤgen! Er allein war in dieſen troſtloſen Augenblicken unſer Gedanke und unſre Zuflucht. „O Vatersbruder, erbarmt Euch!‟ riefen wir unaufhoͤrlich, bis wir uns muͤde geſchrieen hatten und das Thoͤ- richte unſers Beginnens einſahen. Jetzt erſt konnten wir uns unter einan- der berathen, was wir in dieſer unſrer gaͤnz- lichen Verlaſſenheit anzufangen haͤtten? Der Schluß fiel dahinaus, daß wir des naͤchſten Morgens zu unſerm Schiff und unſern an- dern Kameraden zuruͤckkehren wollten. Wo dieſe blieben, wollten auch wir bleiben und ihr Schickſal mit ihnen theilen. Unſer ein- ziger und letzter Nothanker aber war des verſtorbenen Oheims Taſchenuhr, die wir an uns genommen hatten und, wenn uns zuletzt das Waſſer an die Seele gienge, loszuſchla- gen gedachten. Ob dies ſchon im rothen Loͤwen wuͤrde geſchehen muͤſſen, wohin wir nun zunaͤchſt zuruͤckkehrten, ſollten wir als- bald erfahren. Geſaͤttigt und durch einigen Schlaf erquickt, kam denn auch am Morgen

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Zitationshilfe: Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/75>, abgerufen am 30.04.2024.