von hier zu holen, weil man Getreide- Schiffe in unserm Hafen erwartete, die der grausamen Roth steuern sollten. Alle Stra- ßen bei uns lagen voll von diesen unglück- lichen ausgehungerten Menschen. Meine Großmutter, bei der ich, wie schon gesagt, erzogen ward, ließ täglich mehrere Körbe voll Grünkohl in unserm Garten pflücken, kochte Einen Kessel voll nach dem Andern für unsre verschmachtenden Gäste, und mir ward das gern übernommene Ehren-Aemt- chen zu Theil, ihnen diese Speise in kleinen Schüsselchen, nebst einer Brodschnitte, zuzu- tragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen Napf begierig aus der Hand, oder auch wohl unter einander selbst vor dem Munde weg. Jch kann nicht aussprechen, welch einen schauderhaften Eindruck diese Scene auf meine kindische Seele machte!
Endlich langte ein Schiff mit Roggen auf der Rheede an, dem sich tausend sehn- süchtige Augen und Herzen entgegen richte- ten. Aber, o Jammer! beim Einlaufen in den Hafen stieß es gegen eine Steinkiste des Hafendammes und nahm so beträchtli- chen Schaden, daß es, im Strome selbst, nur wenige Hundert Schritte weiter, der Münder Vogtey gegenüber, in den Grund sank. Sollte die kostbare Ladung nicht ganz
von hier zu holen, weil man Getreide- Schiffe in unſerm Hafen erwartete, die der grauſamen Roth ſteuern ſollten. Alle Stra- ßen bei uns lagen voll von dieſen ungluͤck- lichen ausgehungerten Menſchen. Meine Großmutter, bei der ich, wie ſchon geſagt, erzogen ward, ließ taͤglich mehrere Koͤrbe voll Gruͤnkohl in unſerm Garten pfluͤcken, kochte Einen Keſſel voll nach dem Andern fuͤr unſre verſchmachtenden Gaͤſte, und mir ward das gern uͤbernommene Ehren-Aemt- chen zu Theil, ihnen dieſe Speiſe in kleinen Schuͤſſelchen, nebſt einer Brodſchnitte, zuzu- tragen. Da riſſen mir denn Alte und Junge meinen Napf begierig aus der Hand, oder auch wohl unter einander ſelbſt vor dem Munde weg. Jch kann nicht ausſprechen, welch einen ſchauderhaften Eindruck dieſe Scene auf meine kindiſche Seele machte!
Endlich langte ein Schiff mit Roggen auf der Rheede an, dem ſich tauſend ſehn- ſuͤchtige Augen und Herzen entgegen richte- ten. Aber, o Jammer! beim Einlaufen in den Hafen ſtieß es gegen eine Steinkiſte des Hafendammes und nahm ſo betraͤchtli- chen Schaden, daß es, im Strome ſelbſt, nur wenige Hundert Schritte weiter, der Muͤnder Vogtey gegenuͤber, in den Grund ſank. Sollte die koſtbare Ladung nicht ganz
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von hier zu holen, weil man Getreide-
Schiffe in unſerm Hafen erwartete, die der
grauſamen Roth ſteuern ſollten. Alle Stra-
ßen bei uns lagen voll von dieſen ungluͤck-
lichen ausgehungerten Menſchen. Meine
Großmutter, bei der ich, wie ſchon geſagt,
erzogen ward, ließ taͤglich mehrere Koͤrbe
voll Gruͤnkohl in unſerm Garten pfluͤcken,
kochte Einen Keſſel voll nach dem Andern
fuͤr unſre verſchmachtenden Gaͤſte, und mir
ward das gern uͤbernommene Ehren-Aemt-
chen zu Theil, ihnen dieſe Speiſe in kleinen
Schuͤſſelchen, nebſt einer Brodſchnitte, zuzu-
tragen. Da riſſen mir denn Alte und Junge
meinen Napf begierig aus der Hand, oder
auch wohl unter einander ſelbſt vor dem
Munde weg. Jch kann nicht ausſprechen,
welch einen ſchauderhaften Eindruck dieſe
Scene auf meine kindiſche Seele machte!
Endlich langte ein Schiff mit Roggen
auf der Rheede an, dem ſich tauſend ſehn-
ſuͤchtige Augen und Herzen entgegen richte-
ten. Aber, o Jammer! beim Einlaufen in
den Hafen ſtieß es gegen eine Steinkiſte
des Hafendammes und nahm ſo betraͤchtli-
chen Schaden, daß es, im Strome ſelbſt,
nur wenige Hundert Schritte weiter, der
Muͤnder Vogtey gegenuͤber, in den Grund
ſank. Sollte die koſtbare Ladung nicht ganz
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Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/20>, abgerufen am 20.04.2024.
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