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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Untugend ist bestenfalls Ausbruch überschüssiger blinder Kraft,
und leicht sinnlose Kraftvergeudung, die sich nur allzu bald
rächt und aus den scheinbar jugendstrotzenden Menschen früh-
alte macht, denen man nicht ansieht, dass sie je eine Jugend
gehabt haben. Selbst dabei kann irgendwo noch eine edlere
Anlage sich verstecken, die nur etwa nicht freien Raum fand,
sich ihrer Eigenart gemäss zu entfalten. Darum ist es, wenn
die Jugend über die Stränge schlägt, so schwer zu beurteilen,
ob das nur der Most ist, der sich absurd gebärdet, oder Schlim-
meres. Bedenklich ist nicht an sich das Durchbrechen der
äusseren Sitte; bedenklich ist nur, wenn es nicht aus Kritik
geschieht, sondern aus Verachtung jedes kritischen Maasstabs.
Wenn das Erstere, so ist noch nichts verloren; denn dieselbe
Kritik, die das bloss Ueberlieferte verwarf, wird das für echt
Erkannte festhalten und besser sichern, als es in der blossen
Folgsamkeit gegen Sitte und öffentliche Meinung gesichert
war. Man soll also die Kritik nicht beirren, sondern sie selber
wecken, nur ihr auch kräftige Nahrung geben, indem man sie
vor die echten Probleme stellt. Das aber führt unaus-
weichlich zur Philosophie. Die Schule der Sokratik
thut diesem Alter not; die in Plato sich aufs schönste ver-
bindet mit der sicheren Hinleitung auf das ewige Endziel, die
Idee. Wenigstens ein Vorschmack von Philosophie sollte
keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen zum tieferen
Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte man ein philo-
sophisches Lesebuch
zusammenstellen, das auf jeden Fall
einige grosse Stücke aus Plato, das Fasslichste aus der Ethik
Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehaltenen Schriften,
aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen oder dazu Vorbe-
reitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht ohne die not-
wendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte der Lehrer
des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn leider nur an
die höheren Schulen ist unter den gegebenen Voraussetzungen
zu denken) in freien Kursen ausser der Schule denen, die den
Trieb dazu haben, das Beste und Notwendigste davon zugäng-
lich machen. Aber auch die Verstandesschule der theoretischen
Wissenschaften, die Gesetzeserkenntnis der Mathematik und

Untugend ist bestenfalls Ausbruch überschüssiger blinder Kraft,
und leicht sinnlose Kraftvergeudung, die sich nur allzu bald
rächt und aus den scheinbar jugendstrotzenden Menschen früh-
alte macht, denen man nicht ansieht, dass sie je eine Jugend
gehabt haben. Selbst dabei kann irgendwo noch eine edlere
Anlage sich verstecken, die nur etwa nicht freien Raum fand,
sich ihrer Eigenart gemäss zu entfalten. Darum ist es, wenn
die Jugend über die Stränge schlägt, so schwer zu beurteilen,
ob das nur der Most ist, der sich absurd gebärdet, oder Schlim-
meres. Bedenklich ist nicht an sich das Durchbrechen der
äusseren Sitte; bedenklich ist nur, wenn es nicht aus Kritik
geschieht, sondern aus Verachtung jedes kritischen Maasstabs.
Wenn das Erstere, so ist noch nichts verloren; denn dieselbe
Kritik, die das bloss Ueberlieferte verwarf, wird das für echt
Erkannte festhalten und besser sichern, als es in der blossen
Folgsamkeit gegen Sitte und öffentliche Meinung gesichert
war. Man soll also die Kritik nicht beirren, sondern sie selber
wecken, nur ihr auch kräftige Nahrung geben, indem man sie
vor die echten Probleme stellt. Das aber führt unaus-
weichlich zur Philosophie. Die Schule der Sokratik
thut diesem Alter not; die in Plato sich aufs schönste ver-
bindet mit der sicheren Hinleitung auf das ewige Endziel, die
Idee. Wenigstens ein Vorschmack von Philosophie sollte
keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen zum tieferen
Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte man ein philo-
sophisches Lesebuch
zusammenstellen, das auf jeden Fall
einige grosse Stücke aus Plato, das Fasslichste aus der Ethik
Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehaltenen Schriften,
aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen oder dazu Vorbe-
reitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht ohne die not-
wendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte der Lehrer
des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn leider nur an
die höheren Schulen ist unter den gegebenen Voraussetzungen
zu denken) in freien Kursen ausser der Schule denen, die den
Trieb dazu haben, das Beste und Notwendigste davon zugäng-
lich machen. Aber auch die Verstandesschule der theoretischen
Wissenschaften, die Gesetzeserkenntnis der Mathematik und

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[262/0278] Untugend ist bestenfalls Ausbruch überschüssiger blinder Kraft, und leicht sinnlose Kraftvergeudung, die sich nur allzu bald rächt und aus den scheinbar jugendstrotzenden Menschen früh- alte macht, denen man nicht ansieht, dass sie je eine Jugend gehabt haben. Selbst dabei kann irgendwo noch eine edlere Anlage sich verstecken, die nur etwa nicht freien Raum fand, sich ihrer Eigenart gemäss zu entfalten. Darum ist es, wenn die Jugend über die Stränge schlägt, so schwer zu beurteilen, ob das nur der Most ist, der sich absurd gebärdet, oder Schlim- meres. Bedenklich ist nicht an sich das Durchbrechen der äusseren Sitte; bedenklich ist nur, wenn es nicht aus Kritik geschieht, sondern aus Verachtung jedes kritischen Maasstabs. Wenn das Erstere, so ist noch nichts verloren; denn dieselbe Kritik, die das bloss Ueberlieferte verwarf, wird das für echt Erkannte festhalten und besser sichern, als es in der blossen Folgsamkeit gegen Sitte und öffentliche Meinung gesichert war. Man soll also die Kritik nicht beirren, sondern sie selber wecken, nur ihr auch kräftige Nahrung geben, indem man sie vor die echten Probleme stellt. Das aber führt unaus- weichlich zur Philosophie. Die Schule der Sokratik thut diesem Alter not; die in Plato sich aufs schönste ver- bindet mit der sicheren Hinleitung auf das ewige Endziel, die Idee. Wenigstens ein Vorschmack von Philosophie sollte keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen zum tieferen Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte man ein philo- sophisches Lesebuch zusammenstellen, das auf jeden Fall einige grosse Stücke aus Plato, das Fasslichste aus der Ethik Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehaltenen Schriften, aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen oder dazu Vorbe- reitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht ohne die not- wendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte der Lehrer des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn leider nur an die höheren Schulen ist unter den gegebenen Voraussetzungen zu denken) in freien Kursen ausser der Schule denen, die den Trieb dazu haben, das Beste und Notwendigste davon zugäng- lich machen. Aber auch die Verstandesschule der theoretischen Wissenschaften, die Gesetzeserkenntnis der Mathematik und

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/278>, abgerufen am 22.11.2024.