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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend-
liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede
irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber
vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück.
Lassen wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäss
entwickeln.

Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er-
kenntnisdrang
. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben
nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr
Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird
verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein,
hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewissheit reiner,
unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem Ob-
jekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden: das
was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der
ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein
Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die
des Selbstbewusstseins der Erkenntnis. Daher soll man den
Geist furchtlosester Kritik zu wecken und zu nähren nicht
scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, am wenigsten für die
Sittlichkeit. Auf "Jugend" zwar reimt sich "keine Tugend".
Aber das sollte man so verstehen, dass kein äusseres, hetero-
nomes
Tugendgebot ihr mehr genügt. Sie verlangt nicht
bloss das Gute selber zu thun, sondern, um ihr ganzes Selbst
dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch selber, autonom,
zu bestimmen, was das Gute sei, und von keinem Andern
darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, die nicht das
eigene Bewusstsein frei zu bejahen imstande ist. Nicht Rück-
sichten des äussern Lebens, nicht blosse Sitte oder äussere
Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, sondern
unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch wohl
nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Aeussere auch
bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. Das ist die edle
Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht in solchem Sinn in
seiner Jugend über die Stränge schlüge, wäre wohl nicht jung,
sondern einer jener Altgebornen, wie ihrer freilich viele einher-
gehen. Die schlagen auch über die Stränge, aber anders; ihre

deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend-
liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede
irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber
vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück.
Lassen wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäss
entwickeln.

Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er-
kenntnisdrang
. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben
nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr
Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird
verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein,
hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewissheit reiner,
unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem Ob-
jekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden: das
was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der
ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein
Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die
des Selbstbewusstseins der Erkenntnis. Daher soll man den
Geist furchtlosester Kritik zu wecken und zu nähren nicht
scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, am wenigsten für die
Sittlichkeit. Auf „Jugend“ zwar reimt sich „keine Tugend“.
Aber das sollte man so verstehen, dass kein äusseres, hetero-
nomes
Tugendgebot ihr mehr genügt. Sie verlangt nicht
bloss das Gute selber zu thun, sondern, um ihr ganzes Selbst
dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch selber, autonom,
zu bestimmen, was das Gute sei, und von keinem Andern
darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, die nicht das
eigene Bewusstsein frei zu bejahen imstande ist. Nicht Rück-
sichten des äussern Lebens, nicht blosse Sitte oder äussere
Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, sondern
unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch wohl
nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Aeussere auch
bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. Das ist die edle
Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht in solchem Sinn in
seiner Jugend über die Stränge schlüge, wäre wohl nicht jung,
sondern einer jener Altgebornen, wie ihrer freilich viele einher-
gehen. Die schlagen auch über die Stränge, aber anders; ihre

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[261/0277] deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend- liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück. Lassen wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäss entwickeln. Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er- kenntnisdrang. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein, hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewissheit reiner, unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem Ob- jekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden: das was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die des Selbstbewusstseins der Erkenntnis. Daher soll man den Geist furchtlosester Kritik zu wecken und zu nähren nicht scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, am wenigsten für die Sittlichkeit. Auf „Jugend“ zwar reimt sich „keine Tugend“. Aber das sollte man so verstehen, dass kein äusseres, hetero- nomes Tugendgebot ihr mehr genügt. Sie verlangt nicht bloss das Gute selber zu thun, sondern, um ihr ganzes Selbst dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch selber, autonom, zu bestimmen, was das Gute sei, und von keinem Andern darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, die nicht das eigene Bewusstsein frei zu bejahen imstande ist. Nicht Rück- sichten des äussern Lebens, nicht blosse Sitte oder äussere Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, sondern unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch wohl nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Aeussere auch bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. Das ist die edle Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht in solchem Sinn in seiner Jugend über die Stränge schlüge, wäre wohl nicht jung, sondern einer jener Altgebornen, wie ihrer freilich viele einher- gehen. Die schlagen auch über die Stränge, aber anders; ihre

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/277>, abgerufen am 25.11.2024.