Naturwissenschaft müsste wenigstens bis an die Schwelle der Philosophie führen: zu dem Bewusstsein der Unerlässlichkeit von Grundbegriffen, Grundsätzen, Methoden. Es ist nicht nur das Bedürfnis eines Gegengewichts gegen den überkühnen Flug des philosophischen Idealismus, das auf diese Ergänzung be- sonders durch die mathematischen Wissenschaften führt, sondern es ist die innere wurzelhafte Einheit, in der die Idee mit dem Begriff, dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft, das Vernunft- gesetz mit der Gestaltung der Erfahrungswelt unter der Herr- schaft des mathematischen Gesetzes zusammenhängt. In solcher Vertiefung streift auch das "Gute" ganz den weichlichen Sinn des blossen Mitgefühls ab, und enthüllt sich als sein echter Sinn der des Gesetzlichen, darin wurzelnd, dass der Mensch nicht Spielball seiner wogenden Gefühle sein oder bleiben, sondern im gesetzmässigen Grunde des eigenen Selbstbewusstseins sich festgründen will. Der gleiche Sinn der Gesetzlichkeit waltet auch im Reiche des Schönen, des Aesthetischen überhaupt. Der echte Künstler mag immerhin von der "Kritik" so viel verstehen wie die Giraffe vom Strümpfestopfen (wie v. Lilien- cron dafürhält), aber, wenn ihm nicht das Gesetz der Form in den Fingerspitzen lebte, würde er (wie derselbe Mann seinen Freunden, den Naturalisten zuruft) ein roher Bursche bleiben. Auch den Anteil am Künstlerischen, den selbst das blosse nachfühlende Verständnis des Kunstwerks fordert, weckt allein das Studium der Formgesetze, ohne das alles Kunstgeniessen roh und kunstwidrig ist.
Gesetzerkenntnis also ist der ernüchterte Sinn der "Ideenschau", wenn man das abstreift, was in der That das Aeusserlichste daran ist: jenen Gefühlsrausch, den Plato un- nachahmlich als das Jucken der wachsenden Schwingen be- schreibt. Gesetzerkenntnis fordert aber den Halt an der Erfahrung. Daher wird, gerade indem man dem Idealismus sein volles Recht zuteil werden lässt, dem Realismus das seine keineswegs verkürzt. Nicht bloss der echte Künstler, auch der echte Forscher, der echte sittliche Mensch ist "als Naturalist geboren", d. h. will nicht an der blossen Idee sich berauschen, sondern schreckt vor dem Sinnlichsten der Wirk-
Naturwissenschaft müsste wenigstens bis an die Schwelle der Philosophie führen: zu dem Bewusstsein der Unerlässlichkeit von Grundbegriffen, Grundsätzen, Methoden. Es ist nicht nur das Bedürfnis eines Gegengewichts gegen den überkühnen Flug des philosophischen Idealismus, das auf diese Ergänzung be- sonders durch die mathematischen Wissenschaften führt, sondern es ist die innere wurzelhafte Einheit, in der die Idee mit dem Begriff, dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft, das Vernunft- gesetz mit der Gestaltung der Erfahrungswelt unter der Herr- schaft des mathematischen Gesetzes zusammenhängt. In solcher Vertiefung streift auch das „Gute“ ganz den weichlichen Sinn des blossen Mitgefühls ab, und enthüllt sich als sein echter Sinn der des Gesetzlichen, darin wurzelnd, dass der Mensch nicht Spielball seiner wogenden Gefühle sein oder bleiben, sondern im gesetzmässigen Grunde des eigenen Selbstbewusstseins sich festgründen will. Der gleiche Sinn der Gesetzlichkeit waltet auch im Reiche des Schönen, des Aesthetischen überhaupt. Der echte Künstler mag immerhin von der „Kritik“ so viel verstehen wie die Giraffe vom Strümpfestopfen (wie v. Lilien- cron dafürhält), aber, wenn ihm nicht das Gesetz der Form in den Fingerspitzen lebte, würde er (wie derselbe Mann seinen Freunden, den Naturalisten zuruft) ein roher Bursche bleiben. Auch den Anteil am Künstlerischen, den selbst das blosse nachfühlende Verständnis des Kunstwerks fordert, weckt allein das Studium der Formgesetze, ohne das alles Kunstgeniessen roh und kunstwidrig ist.
Gesetzerkenntnis also ist der ernüchterte Sinn der „Ideenschau“, wenn man das abstreift, was in der That das Aeusserlichste daran ist: jenen Gefühlsrausch, den Plato un- nachahmlich als das Jucken der wachsenden Schwingen be- schreibt. Gesetzerkenntnis fordert aber den Halt an der Erfahrung. Daher wird, gerade indem man dem Idealismus sein volles Recht zuteil werden lässt, dem Realismus das seine keineswegs verkürzt. Nicht bloss der echte Künstler, auch der echte Forscher, der echte sittliche Mensch ist „als Naturalist geboren“, d. h. will nicht an der blossen Idee sich berauschen, sondern schreckt vor dem Sinnlichsten der Wirk-
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Naturwissenschaft müsste wenigstens bis an die Schwelle der
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das Bedürfnis eines Gegengewichts gegen den überkühnen Flug
des philosophischen Idealismus, das auf diese Ergänzung be-
sonders durch die mathematischen Wissenschaften führt, sondern
es ist die innere wurzelhafte Einheit, in der die Idee mit dem
Begriff, dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft, das Vernunft-
gesetz mit der Gestaltung der Erfahrungswelt unter der Herr-
schaft des mathematischen Gesetzes zusammenhängt. In solcher
Vertiefung streift auch das „Gute“ ganz den weichlichen Sinn
des blossen Mitgefühls ab, und enthüllt sich als sein echter Sinn
der des Gesetzlichen, darin wurzelnd, dass der Mensch nicht
Spielball seiner wogenden Gefühle sein oder bleiben, sondern
im gesetzmässigen Grunde des eigenen Selbstbewusstseins sich
festgründen will. Der gleiche Sinn der Gesetzlichkeit waltet
auch im Reiche des Schönen, des Aesthetischen überhaupt.
Der echte Künstler mag immerhin von der „Kritik“ so viel
verstehen wie die Giraffe vom Strümpfestopfen (wie v. Lilien-
cron dafürhält), aber, wenn ihm nicht das Gesetz der Form
in den Fingerspitzen lebte, würde er (wie derselbe Mann seinen
Freunden, den Naturalisten zuruft) ein roher Bursche bleiben.
Auch den Anteil am Künstlerischen, den selbst das blosse
nachfühlende Verständnis des Kunstwerks fordert, weckt allein
das Studium der Formgesetze, ohne das alles Kunstgeniessen
roh und kunstwidrig ist.
Gesetzerkenntnis also ist der ernüchterte Sinn der
„Ideenschau“, wenn man das abstreift, was in der That das
Aeusserlichste daran ist: jenen Gefühlsrausch, den Plato un-
nachahmlich als das Jucken der wachsenden Schwingen be-
schreibt. Gesetzerkenntnis fordert aber den Halt an der
Erfahrung. Daher wird, gerade indem man dem Idealismus
sein volles Recht zuteil werden lässt, dem Realismus das seine
keineswegs verkürzt. Nicht bloss der echte Künstler, auch
der echte Forscher, der echte sittliche Mensch ist „als
Naturalist geboren“, d. h. will nicht an der blossen Idee sich
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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