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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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äussernden Schmerz nicht bloss des Angehörigen sondern jedes
Lebendigen (oder nur lebendig Geglaubten) gar sehr mitempfindet,
so herzlich wie das physische Wohlsein des kleinen Geschwisters
oder des geliebten Haustiers. Ueberhaupt ist Rücksichtnahme
und Zartsinn jedem Kinde natürlich, das sie selbst in der rechten
Weise, d. h. ohne die verderbliche Schwäche gegen seine Fehler,
an sich und in seiner ganzen Umgebung erfährt.

Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben
des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens-
jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe;
das schliesst aber eine moralische Behandlung keineswegs aus.
Sie führt die meisten jener kleinen und grossen Konflikte her-
bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen nicht aus-
bleiben. Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung
des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt
werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten
scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum
wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig behandelt,
verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der sicheren,
unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem bestimmten
Begriff, dass jede Disharmonie der Gemeinschaft auch die
Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muss, und zwar um
so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon gegründet
ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, wenn in solchem Fall
die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst in Hitze
geraten, und so die gestörte Harmonie recht disharmonisch
wiederherzustellen bestrebt sind. Aber das ist leider allzu-
menschlich und in der Not des Augenblicks verzeihlich. Möchte
nur nachher die Stunde der stillen Besinnung nicht aus-
bleiben, wo man sich, wenn auch nicht in Worten sagt, doch
mit allem Liebeserweis wechselseitig zu verstehen giebt: es
hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; möchten
wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die sicherste und
reinste Hülfe und Versöhnung aber liegt gerade dann im gemein-
samen förderlichen Thun, das die scheinbar zerrissene Gemein-
schaft am schnellsten wiederaufbaut oder vielmehr zum Bewusst-
sein bringt, dass sie trotz allem besteht und bestehen wird.


äussernden Schmerz nicht bloss des Angehörigen sondern jedes
Lebendigen (oder nur lebendig Geglaubten) gar sehr mitempfindet,
so herzlich wie das physische Wohlsein des kleinen Geschwisters
oder des geliebten Haustiers. Ueberhaupt ist Rücksichtnahme
und Zartsinn jedem Kinde natürlich, das sie selbst in der rechten
Weise, d. h. ohne die verderbliche Schwäche gegen seine Fehler,
an sich und in seiner ganzen Umgebung erfährt.

Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben
des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens-
jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe;
das schliesst aber eine moralische Behandlung keineswegs aus.
Sie führt die meisten jener kleinen und grossen Konflikte her-
bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen nicht aus-
bleiben. Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung
des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt
werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten
scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum
wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig behandelt,
verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der sicheren,
unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem bestimmten
Begriff, dass jede Disharmonie der Gemeinschaft auch die
Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muss, und zwar um
so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon gegründet
ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, wenn in solchem Fall
die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst in Hitze
geraten, und so die gestörte Harmonie recht disharmonisch
wiederherzustellen bestrebt sind. Aber das ist leider allzu-
menschlich und in der Not des Augenblicks verzeihlich. Möchte
nur nachher die Stunde der stillen Besinnung nicht aus-
bleiben, wo man sich, wenn auch nicht in Worten sagt, doch
mit allem Liebeserweis wechselseitig zu verstehen giebt: es
hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; möchten
wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die sicherste und
reinste Hülfe und Versöhnung aber liegt gerade dann im gemein-
samen förderlichen Thun, das die scheinbar zerrissene Gemein-
schaft am schnellsten wiederaufbaut oder vielmehr zum Bewusst-
sein bringt, dass sie trotz allem besteht und bestehen wird.


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[250/0266] äussernden Schmerz nicht bloss des Angehörigen sondern jedes Lebendigen (oder nur lebendig Geglaubten) gar sehr mitempfindet, so herzlich wie das physische Wohlsein des kleinen Geschwisters oder des geliebten Haustiers. Ueberhaupt ist Rücksichtnahme und Zartsinn jedem Kinde natürlich, das sie selbst in der rechten Weise, d. h. ohne die verderbliche Schwäche gegen seine Fehler, an sich und in seiner ganzen Umgebung erfährt. Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens- jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe; das schliesst aber eine moralische Behandlung keineswegs aus. Sie führt die meisten jener kleinen und grossen Konflikte her- bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen nicht aus- bleiben. Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig behandelt, verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der sicheren, unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem bestimmten Begriff, dass jede Disharmonie der Gemeinschaft auch die Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muss, und zwar um so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon gegründet ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, wenn in solchem Fall die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst in Hitze geraten, und so die gestörte Harmonie recht disharmonisch wiederherzustellen bestrebt sind. Aber das ist leider allzu- menschlich und in der Not des Augenblicks verzeihlich. Möchte nur nachher die Stunde der stillen Besinnung nicht aus- bleiben, wo man sich, wenn auch nicht in Worten sagt, doch mit allem Liebeserweis wechselseitig zu verstehen giebt: es hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; möchten wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die sicherste und reinste Hülfe und Versöhnung aber liegt gerade dann im gemein- samen förderlichen Thun, das die scheinbar zerrissene Gemein- schaft am schnellsten wiederaufbaut oder vielmehr zum Bewusst- sein bringt, dass sie trotz allem besteht und bestehen wird.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/266>, abgerufen am 22.11.2024.