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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten -- an
der Mutterbrust. Aber auch wenn sich diese erste, engste
Abhängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit
den alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen,
und muss alles, was sonst noch in sein Bewusstsein tritt, sich
erst gleichsam Heimatsrechte in dieser noch so engen und doch
so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist
das Kind fortwährend der unbewusste Schüler und Zögling
seiner kaum mehr ihrer Rolle bewussten Lehrer und Erzieher;
worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen,
aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt es wahr;
wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet
es sein Thun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend
aber ist der Einfluss der schon bewussteren Gemeinschaft im
Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus-
druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschliesst sich doch darin
dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft
für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung
hält, und den sie in einem natürlichen Kommunismus allen zu
gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt.

Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels;
auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen.
Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen vortäuschen; aber
schliesslich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut
kameradschaftlichen Verkehr. So lernt es Menschlichkeit gleich-
sam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr mensch-
licher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im Tier, ist
daher im einigermaassen normal aufwachsenden Kinde mit Sicher-
heit anzutreffen; was man auch von seiner natürlichen Grausam-
keit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höchstens, dass das
Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder vielmehr nur den
natürlichen: dass Sterben nicht lange, Totsein gar nicht weh
thut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangenheit, mit der
es sich dem Spiel seiner Phantasie überlässt und am Phanta-
sieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen Sterbefall
im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener Gelassenheit
an, während es doch den thatsächlichen, sich unmittelbar

Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten — an
der Mutterbrust. Aber auch wenn sich diese erste, engste
Abhängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit
den alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen,
und muss alles, was sonst noch in sein Bewusstsein tritt, sich
erst gleichsam Heimatsrechte in dieser noch so engen und doch
so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist
das Kind fortwährend der unbewusste Schüler und Zögling
seiner kaum mehr ihrer Rolle bewussten Lehrer und Erzieher;
worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen,
aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt es wahr;
wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet
es sein Thun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend
aber ist der Einfluss der schon bewussteren Gemeinschaft im
Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus-
druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschliesst sich doch darin
dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft
für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung
hält, und den sie in einem natürlichen Kommunismus allen zu
gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt.

Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels;
auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen.
Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen vortäuschen; aber
schliesslich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut
kameradschaftlichen Verkehr. So lernt es Menschlichkeit gleich-
sam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr mensch-
licher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im Tier, ist
daher im einigermaassen normal aufwachsenden Kinde mit Sicher-
heit anzutreffen; was man auch von seiner natürlichen Grausam-
keit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höchstens, dass das
Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder vielmehr nur den
natürlichen: dass Sterben nicht lange, Totsein gar nicht weh
thut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangenheit, mit der
es sich dem Spiel seiner Phantasie überlässt und am Phanta-
sieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen Sterbefall
im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener Gelassenheit
an, während es doch den thatsächlichen, sich unmittelbar

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[249/0265] Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten — an der Mutterbrust. Aber auch wenn sich diese erste, engste Abhängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit den alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen, und muss alles, was sonst noch in sein Bewusstsein tritt, sich erst gleichsam Heimatsrechte in dieser noch so engen und doch so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist das Kind fortwährend der unbewusste Schüler und Zögling seiner kaum mehr ihrer Rolle bewussten Lehrer und Erzieher; worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen, aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt es wahr; wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet es sein Thun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend aber ist der Einfluss der schon bewussteren Gemeinschaft im Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus- druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschliesst sich doch darin dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung hält, und den sie in einem natürlichen Kommunismus allen zu gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt. Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels; auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen. Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen vortäuschen; aber schliesslich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut kameradschaftlichen Verkehr. So lernt es Menschlichkeit gleich- sam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr mensch- licher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im Tier, ist daher im einigermaassen normal aufwachsenden Kinde mit Sicher- heit anzutreffen; was man auch von seiner natürlichen Grausam- keit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höchstens, dass das Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder vielmehr nur den natürlichen: dass Sterben nicht lange, Totsein gar nicht weh thut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangenheit, mit der es sich dem Spiel seiner Phantasie überlässt und am Phanta- sieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen Sterbefall im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener Gelassenheit an, während es doch den thatsächlichen, sich unmittelbar

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/265>, abgerufen am 11.05.2024.