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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

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Augensprache immer noch ein feinfühlendes Verständ¬
niß hatte, verstand auch diesen Blick. Ein heißes Weh
ging durch sein Herz. Sie ist in Noth, dachte er,
sie sieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt sie
vergessen. Er führte sie in die Stube. Gretchen hatte
zum erstenmal das Bett verlassen und saß in Betten
und Mäntel gehüllt im Lehnstuhl, Vater Buchstein
und die Tante saßen neben ihr, freueten sich ihrer
Genesung, der sie mit einiger Besorgniß entgegen sa¬
hen, weil der sehr heftige Husten in Gretchens Zu¬
stande was Angstvolles hatte. Die Tante erschrak, als
Klärchen als ein so sprechendes Bild des Jammers
und des Elendes in die Stube trat. Fritz stellte ihr
einen Stuhl an den Ofen, sie setzte sich, aber immer
noch flogen ihre Glieder vor Frost.

Wie geht's Euch denn? fragte die Tante besorgt.

Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen --
hier stockte Klärchens Stimme.

Warum hast Du keinen Mantel um? -- fuhr die
Tante fort -- was hast Du an? Sie hob unwill¬
kürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Fri¬
surenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? sagte die
Tante erschrocken, warum denn keinen wollenen Rock?

Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich
habe keinen, schluchzte sie, und habe nichts, nichts!
Fritz trat an das Fenster, er konnte seinen Augen nicht
gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungs¬
stücke sie für Klärchen holen sollte; aber Klärchen sagte
leise weinend:

O nichts für mich, nur etwas Holz und Essen
für meine Mutter und mein Kind.

Augenſprache immer noch ein feinfühlendes Verſtänd¬
niß hatte, verſtand auch dieſen Blick. Ein heißes Weh
ging durch ſein Herz. Sie iſt in Noth, dachte er,
ſie ſieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt ſie
vergeſſen. Er führte ſie in die Stube. Gretchen hatte
zum erſtenmal das Bett verlaſſen und ſaß in Betten
und Mäntel gehüllt im Lehnſtuhl, Vater Buchſtein
und die Tante ſaßen neben ihr, freueten ſich ihrer
Geneſung, der ſie mit einiger Beſorgniß entgegen ſa¬
hen, weil der ſehr heftige Huſten in Gretchens Zu¬
ſtande was Angſtvolles hatte. Die Tante erſchrak, als
Klärchen als ein ſo ſprechendes Bild des Jammers
und des Elendes in die Stube trat. Fritz ſtellte ihr
einen Stuhl an den Ofen, ſie ſetzte ſich, aber immer
noch flogen ihre Glieder vor Froſt.

Wie geht's Euch denn? fragte die Tante beſorgt.

Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen —
hier ſtockte Klärchens Stimme.

Warum haſt Du keinen Mantel um? — fuhr die
Tante fort — was haſt Du an? Sie hob unwill¬
kürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Fri¬
ſurenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? ſagte die
Tante erſchrocken, warum denn keinen wollenen Rock?

Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich
habe keinen, ſchluchzte ſie, und habe nichts, nichts!
Fritz trat an das Fenſter, er konnte ſeinen Augen nicht
gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungs¬
ſtücke ſie für Klärchen holen ſollte; aber Klärchen ſagte
leiſe weinend:

O nichts für mich, nur etwas Holz und Eſſen
für meine Mutter und mein Kind.

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[136/0142] Augenſprache immer noch ein feinfühlendes Verſtänd¬ niß hatte, verſtand auch dieſen Blick. Ein heißes Weh ging durch ſein Herz. Sie iſt in Noth, dachte er, ſie ſieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt ſie vergeſſen. Er führte ſie in die Stube. Gretchen hatte zum erſtenmal das Bett verlaſſen und ſaß in Betten und Mäntel gehüllt im Lehnſtuhl, Vater Buchſtein und die Tante ſaßen neben ihr, freueten ſich ihrer Geneſung, der ſie mit einiger Beſorgniß entgegen ſa¬ hen, weil der ſehr heftige Huſten in Gretchens Zu¬ ſtande was Angſtvolles hatte. Die Tante erſchrak, als Klärchen als ein ſo ſprechendes Bild des Jammers und des Elendes in die Stube trat. Fritz ſtellte ihr einen Stuhl an den Ofen, ſie ſetzte ſich, aber immer noch flogen ihre Glieder vor Froſt. Wie geht's Euch denn? fragte die Tante beſorgt. Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen — hier ſtockte Klärchens Stimme. Warum haſt Du keinen Mantel um? — fuhr die Tante fort — was haſt Du an? Sie hob unwill¬ kürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Fri¬ ſurenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? ſagte die Tante erſchrocken, warum denn keinen wollenen Rock? Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich habe keinen, ſchluchzte ſie, und habe nichts, nichts! Fritz trat an das Fenſter, er konnte ſeinen Augen nicht gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungs¬ ſtücke ſie für Klärchen holen ſollte; aber Klärchen ſagte leiſe weinend: O nichts für mich, nur etwas Holz und Eſſen für meine Mutter und mein Kind.

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Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/142>, abgerufen am 26.11.2024.