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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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bisher immer ausgewichen, endlich Gelegen-
heit gefunden, ihre Gesinnungen im Betreff
der ersten Liebe auszuforschen. Bin zwar
nicht allerdings damit zu Stande gekommen,
wie ich wohl gewünscht hätt': verhoff den-
noch, Jhnen von der Situation ihres Her-
zens sattsame Auskunft zu geben, um Jhre
Maaßregeln bey den vorseyenden Ehehaften
darnach zu nehmen. Weiß nicht gleich,
welcher Psycholog irgendwo behauptet, die
Seel eines Kindes, das noch keine Jdeen
hat, sey zu vergleichen einer reinen glatten
Tafel, auf die noch keine Schrift eingegra-
ben ist, auf welche sich aber alle Charaktere,
wie man nur wolle, leicht verzeichnen lassen.
Gerade so und nicht anders ist das Herz
Jhrer Tochter beschaffen in Absicht der
Liebe, glatt und rein wie eine Spiegelfläche,
gegen den unermeßlichen blauen Himmel
gekehret. Wie nun die kleinste Verände-
rung in der Lage, dem Spiegelglaß die

Dar-

bisher immer ausgewichen, endlich Gelegen-
heit gefunden, ihre Geſinnungen im Betreff
der erſten Liebe auszuforſchen. Bin zwar
nicht allerdings damit zu Stande gekommen,
wie ich wohl gewuͤnſcht haͤtt’: verhoff den-
noch, Jhnen von der Situation ihres Her-
zens ſattſame Auskunft zu geben, um Jhre
Maaßregeln bey den vorſeyenden Ehehaften
darnach zu nehmen. Weiß nicht gleich,
welcher Pſycholog irgendwo behauptet, die
Seel eines Kindes, das noch keine Jdeen
hat, ſey zu vergleichen einer reinen glatten
Tafel, auf die noch keine Schrift eingegra-
ben iſt, auf welche ſich aber alle Charaktere,
wie man nur wolle, leicht verzeichnen laſſen.
Gerade ſo und nicht anders iſt das Herz
Jhrer Tochter beſchaffen in Abſicht der
Liebe, glatt und rein wie eine Spiegelflaͤche,
gegen den unermeßlichen blauen Himmel
gekehret. Wie nun die kleinſte Veraͤnde-
rung in der Lage, dem Spiegelglaß die

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[216/0224] bisher immer ausgewichen, endlich Gelegen- heit gefunden, ihre Geſinnungen im Betreff der erſten Liebe auszuforſchen. Bin zwar nicht allerdings damit zu Stande gekommen, wie ich wohl gewuͤnſcht haͤtt’: verhoff den- noch, Jhnen von der Situation ihres Her- zens ſattſame Auskunft zu geben, um Jhre Maaßregeln bey den vorſeyenden Ehehaften darnach zu nehmen. Weiß nicht gleich, welcher Pſycholog irgendwo behauptet, die Seel eines Kindes, das noch keine Jdeen hat, ſey zu vergleichen einer reinen glatten Tafel, auf die noch keine Schrift eingegra- ben iſt, auf welche ſich aber alle Charaktere, wie man nur wolle, leicht verzeichnen laſſen. Gerade ſo und nicht anders iſt das Herz Jhrer Tochter beſchaffen in Abſicht der Liebe, glatt und rein wie eine Spiegelflaͤche, gegen den unermeßlichen blauen Himmel gekehret. Wie nun die kleinſte Veraͤnde- rung in der Lage, dem Spiegelglaß die Dar-

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/224>, abgerufen am 16.04.2024.