Meister nachphysiognomisire, wiederführ, daß nichts zuträf. Die Physiognomik sey ein habitus practicus, den müsse man im Kopf haben und nicht im Buche, ob man sich denselben gleich daraus erwerben müsse. Wenn man aber iedes vorkommende Exem- pel aus dem Buche lösen wolle, so sey das eben so viel, als wenn ein Richter, ieden ihm vorkommenden Rechtsfall im Korpus juris aufsuchen und darnach decidiren wolle. Da trät immer die Kautel ein: minima circumstantia variat rem. Alles komme auf den Blitzblick des Sehers an, dieser entscheide auf Rechtshändel angewendet ju- ridisch, wie bey Gesichtsformen physiogno- misch. Auf dieses Schnellgefühl könne man sich, wenn es auf vorgängiges ernsthaftes Studium gegründet sey, aber auch sicherer verlassen, als auf einen Wahrsager Geist. Daß sey die wahre Prozedur bey der physio- gnomischen Menschenkunde, wer diese nicht
einschla-
Meiſter nachphyſiognomiſire, wiederfuͤhr, daß nichts zutraͤf. Die Phyſiognomik ſey ein habitus practicus, den muͤſſe man im Kopf haben und nicht im Buche, ob man ſich denſelben gleich daraus erwerben muͤſſe. Wenn man aber iedes vorkommende Exem- pel aus dem Buche loͤſen wolle, ſo ſey das eben ſo viel, als wenn ein Richter, ieden ihm vorkommenden Rechtsfall im Korpus juris aufſuchen und darnach decidiren wolle. Da traͤt immer die Kautel ein: minima circumſtantia variat rem. Alles komme auf den Blitzblick des Sehers an, dieſer entſcheide auf Rechtshaͤndel angewendet ju- ridiſch, wie bey Geſichtsformen phyſiogno- miſch. Auf dieſes Schnellgefuͤhl koͤnne man ſich, wenn es auf vorgaͤngiges ernſthaftes Studium gegruͤndet ſey, aber auch ſicherer verlaſſen, als auf einen Wahrſager Geiſt. Daß ſey die wahre Prozedur bey der phyſio- gnomiſchen Menſchenkunde, wer dieſe nicht
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Meiſter nachphyſiognomiſire, wiederfuͤhr,
daß nichts zutraͤf. Die Phyſiognomik ſey
ein habitus practicus, den muͤſſe man im
Kopf haben und nicht im Buche, ob man
ſich denſelben gleich daraus erwerben muͤſſe.
Wenn man aber iedes vorkommende Exem-
pel aus dem Buche loͤſen wolle, ſo ſey das
eben ſo viel, als wenn ein Richter, ieden
ihm vorkommenden Rechtsfall im Korpus
juris aufſuchen und darnach decidiren wolle.
Da traͤt immer die Kautel ein: minima
circumſtantia variat rem. Alles komme
auf den Blitzblick des Sehers an, dieſer
entſcheide auf Rechtshaͤndel angewendet ju-
ridiſch, wie bey Geſichtsformen phyſiogno-
miſch. Auf dieſes Schnellgefuͤhl koͤnne man
ſich, wenn es auf vorgaͤngiges ernſthaftes
Studium gegruͤndet ſey, aber auch ſicherer
verlaſſen, als auf einen Wahrſager Geiſt.
Daß ſey die wahre Prozedur bey der phyſio-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/206>, abgerufen am 23.07.2024.
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