"Allerdings hat er sich meiner Methode oft bedienet, denn sie ist die bewährte, na- türliche, und die zu allen Zeiten im Gang gewesen ist; aber er hat sie nicht in formam artis aufgenommen. Er vergleicht Ge- sichtszüge mit Thatsachen, um die Bedeut- samkeit der Ersten mit diesen zu belegen; vermeynt aber nicht, daß sein Urtheil aus dieser Vergleichung hergeflossen sey, sondern seine lebhafte Jmagination bildet ihm ein, solches aus den Gesichtszügen allein heraus zu lesen, als wenn er von den Thatsachen nichts wüßte, das heißt die Schlösser ohne Schlüssel aufriegeln. Jch hingegen beken- ne meine Unwissenheit, daß ich weder Ge- sichtszüge ohne Thatsachen, noch diese ohne jene zu beurtheilen vermag."
Diese Theorie scheint zur Praxis des ge- meinen Lebens nicht unrecht zu seyn, ob ich ihr gleich nicht beypflichten kann. Aber, daß ich fragen mag, haben Sie sich diesen
phy-
„Allerdings hat er ſich meiner Methode oft bedienet, denn ſie iſt die bewaͤhrte, na- tuͤrliche, und die zu allen Zeiten im Gang geweſen iſt; aber er hat ſie nicht in formam artis aufgenommen. Er vergleicht Ge- ſichtszuͤge mit Thatſachen, um die Bedeut- ſamkeit der Erſten mit dieſen zu belegen; vermeynt aber nicht, daß ſein Urtheil aus dieſer Vergleichung hergefloſſen ſey, ſondern ſeine lebhafte Jmagination bildet ihm ein, ſolches aus den Geſichtszuͤgen allein heraus zu leſen, als wenn er von den Thatſachen nichts wuͤßte, das heißt die Schloͤſſer ohne Schluͤſſel aufriegeln. Jch hingegen beken- ne meine Unwiſſenheit, daß ich weder Ge- ſichtszuͤge ohne Thatſachen, noch dieſe ohne jene zu beurtheilen vermag.„
Dieſe Theorie ſcheint zur Praxis des ge- meinen Lebens nicht unrecht zu ſeyn, ob ich ihr gleich nicht beypflichten kann. Aber, daß ich fragen mag, haben Sie ſich dieſen
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„Allerdings hat er ſich meiner Methode
oft bedienet, denn ſie iſt die bewaͤhrte, na-
tuͤrliche, und die zu allen Zeiten im Gang
geweſen iſt; aber er hat ſie nicht in formam
artis aufgenommen. Er vergleicht Ge-
ſichtszuͤge mit Thatſachen, um die Bedeut-
ſamkeit der Erſten mit dieſen zu belegen;
vermeynt aber nicht, daß ſein Urtheil aus
dieſer Vergleichung hergefloſſen ſey, ſondern
ſeine lebhafte Jmagination bildet ihm ein,
ſolches aus den Geſichtszuͤgen allein heraus
zu leſen, als wenn er von den Thatſachen
nichts wuͤßte, das heißt die Schloͤſſer ohne
Schluͤſſel aufriegeln. Jch hingegen beken-
ne meine Unwiſſenheit, daß ich weder Ge-
ſichtszuͤge ohne Thatſachen, noch dieſe ohne
jene zu beurtheilen vermag.„
Dieſe Theorie ſcheint zur Praxis des ge-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/220>, abgerufen am 18.06.2024.
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