auch jede Handlung oder Thatsache die ih- rige. Vor sich allein genommen läßt sich aber diese so wenig sicher beurtheilen als eine Gesichtsform; doch beyde zusammen genommen wirken das feste untrügliche Ur- theil der physiognomischen Kunst. Beyde sind allgemeine Zeichen, die für sich ein- zeln betrachtet, nichts gelten; die aber al- les gelten können, wenn sie der Kunstver- ständige gehörig zusammen ordnet, und in bedeutsame Formeln verwandelt, wodurch die schwersten Aufgaben, die der mensch- liche Verstand sonst nicht entziffern würde, sicher und geschwind gelöset werden."
Das all' ist meiner Meynung nach nichts mehr, als die physiognomische Kunst a po- steriori, wenn einer an einem überwiesenen Dieb auch ein Diebsgesicht entdeckt, oder Künstleraugen, an einem schon bekannten Künstler. Diese Methode hat Lavater gar oft gebraucht, und ist nicht neu.
"Aller-
auch jede Handlung oder Thatſache die ih- rige. Vor ſich allein genommen laͤßt ſich aber dieſe ſo wenig ſicher beurtheilen als eine Geſichtsform; doch beyde zuſammen genommen wirken das feſte untruͤgliche Ur- theil der phyſiognomiſchen Kunſt. Beyde ſind allgemeine Zeichen, die fuͤr ſich ein- zeln betrachtet, nichts gelten; die aber al- les gelten koͤnnen, wenn ſie der Kunſtver- ſtaͤndige gehoͤrig zuſammen ordnet, und in bedeutſame Formeln verwandelt, wodurch die ſchwerſten Aufgaben, die der menſch- liche Verſtand ſonſt nicht entziffern wuͤrde, ſicher und geſchwind geloͤſet werden.„
Das all’ iſt meiner Meynung nach nichts mehr, als die phyſiognomiſche Kunſt a po- ſteriori, wenn einer an einem uͤberwieſenen Dieb auch ein Diebsgeſicht entdeckt, oder Kuͤnſtleraugen, an einem ſchon bekannten Kuͤnſtler. Dieſe Methode hat Lavater gar oft gebraucht, und iſt nicht neu.
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auch jede Handlung oder Thatſache die ih-
rige. Vor ſich allein genommen laͤßt ſich
aber dieſe ſo wenig ſicher beurtheilen als
eine Geſichtsform; doch beyde zuſammen
genommen wirken das feſte untruͤgliche Ur-
theil der phyſiognomiſchen Kunſt. Beyde
ſind allgemeine Zeichen, die fuͤr ſich ein-
zeln betrachtet, nichts gelten; die aber al-
les gelten koͤnnen, wenn ſie der Kunſtver-
ſtaͤndige gehoͤrig zuſammen ordnet, und in
bedeutſame Formeln verwandelt, wodurch
die ſchwerſten Aufgaben, die der menſch-
liche Verſtand ſonſt nicht entziffern wuͤrde,
ſicher und geſchwind geloͤſet werden.„
Das all’ iſt meiner Meynung nach nichts
mehr, als die phyſiognomiſche Kunſt a po-
ſteriori, wenn einer an einem uͤberwieſenen
Dieb auch ein Diebsgeſicht entdeckt, oder
Kuͤnſtleraugen, an einem ſchon bekannten
Kuͤnſtler. Dieſe Methode hat Lavater gar
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/219>, abgerufen am 16.02.2025.
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