empfing mich mit ungemeiner Redseligkeit, die ich nach der Mahlzeit besser goutirt' als vor derselben. Bald nach Tisch' frug die Dame, ob wir Belieben trügen -- war noch außer mir ein junger Officier zum Be- such da, der wohl nicht Betens halber in diesen Stiftsconvent gekommen war, -- der physiognomischen Uebungsstund' beyzuwoh- nen, die sie ihrer Gewohnheit nach täglich um diese Zeit zu halten pflegten. Jch horcht' hoch auf, als ich vernahm, daß die Physiognomik im Erzgebürg' Wurzel ge- schlagen, das macht' mir so viel Freud', als der Anblick des ersten Ulmenbaums beym Ammonstempel dem Heer des großen Alexanders, als es die Libysche Sandwüste glücklich durchwandert hatte. Der ganze Zug ging in die sogenannte Bibliothek, die außer einem Vorrath ascetischer Schriften, worunter die Predigten für verheyrathete Frauenzimmer die mehresten Merkzeichen
einer
empfing mich mit ungemeiner Redſeligkeit, die ich nach der Mahlzeit beſſer goutirt’ als vor derſelben. Bald nach Tiſch’ frug die Dame, ob wir Belieben truͤgen — war noch außer mir ein junger Officier zum Be- ſuch da, der wohl nicht Betens halber in dieſen Stiftsconvent gekommen war, — der phyſiognomiſchen Uebungsſtund’ beyzuwoh- nen, die ſie ihrer Gewohnheit nach taͤglich um dieſe Zeit zu halten pflegten. Jch horcht’ hoch auf, als ich vernahm, daß die Phyſiognomik im Erzgebuͤrg’ Wurzel ge- ſchlagen, das macht’ mir ſo viel Freud’, als der Anblick des erſten Ulmenbaums beym Ammonstempel dem Heer des großen Alexanders, als es die Libyſche Sandwuͤſte gluͤcklich durchwandert hatte. Der ganze Zug ging in die ſogenannte Bibliothek, die außer einem Vorrath aſcetiſcher Schriften, worunter die Predigten fuͤr verheyrathete Frauenzimmer die mehreſten Merkzeichen
einer
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0160"n="160"/>
empfing mich mit ungemeiner Redſeligkeit,<lb/>
die ich nach der Mahlzeit beſſer goutirt’ als<lb/>
vor derſelben. Bald nach Tiſch’ frug die<lb/>
Dame, ob wir Belieben truͤgen — war<lb/>
noch außer mir ein junger Officier zum Be-<lb/>ſuch da, der wohl nicht Betens halber in<lb/>
dieſen Stiftsconvent gekommen war, — der<lb/>
phyſiognomiſchen Uebungsſtund’ beyzuwoh-<lb/>
nen, die ſie ihrer Gewohnheit nach taͤglich<lb/>
um dieſe Zeit zu halten pflegten. Jch<lb/>
horcht’ hoch auf, als ich vernahm, daß die<lb/>
Phyſiognomik im Erzgebuͤrg’ Wurzel ge-<lb/>ſchlagen, das macht’ mir ſo viel Freud’,<lb/>
als der Anblick des erſten Ulmenbaums<lb/>
beym Ammonstempel dem Heer des großen<lb/>
Alexanders, als es die Libyſche Sandwuͤſte<lb/>
gluͤcklich durchwandert hatte. Der ganze<lb/>
Zug ging in die ſogenannte Bibliothek, die<lb/>
außer einem Vorrath aſcetiſcher Schriften,<lb/>
worunter die Predigten fuͤr verheyrathete<lb/>
Frauenzimmer die mehreſten Merkzeichen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">einer</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[160/0160]
empfing mich mit ungemeiner Redſeligkeit,
die ich nach der Mahlzeit beſſer goutirt’ als
vor derſelben. Bald nach Tiſch’ frug die
Dame, ob wir Belieben truͤgen — war
noch außer mir ein junger Officier zum Be-
ſuch da, der wohl nicht Betens halber in
dieſen Stiftsconvent gekommen war, — der
phyſiognomiſchen Uebungsſtund’ beyzuwoh-
nen, die ſie ihrer Gewohnheit nach taͤglich
um dieſe Zeit zu halten pflegten. Jch
horcht’ hoch auf, als ich vernahm, daß die
Phyſiognomik im Erzgebuͤrg’ Wurzel ge-
ſchlagen, das macht’ mir ſo viel Freud’,
als der Anblick des erſten Ulmenbaums
beym Ammonstempel dem Heer des großen
Alexanders, als es die Libyſche Sandwuͤſte
gluͤcklich durchwandert hatte. Der ganze
Zug ging in die ſogenannte Bibliothek, die
außer einem Vorrath aſcetiſcher Schriften,
worunter die Predigten fuͤr verheyrathete
Frauenzimmer die mehreſten Merkzeichen
einer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/160>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.