glüklich, bey dem unabläßigen Hin- und Herschwanken der Ebbe und Fluth theologi- scher Meinungen und Lehrsätz: weil diese allverschlingenden Wogen nicht eher zu uns gelangten, bis sie sich erst über das weite Sandgestad' her abgetobt, und ihre Kraft zu verschlingen und in ihrem Strudel fort zureißen, verlohren hätten. Daher, wenn der selge Gottesmann Luther wieder aufste- hen, und eine Kirchenvisitation halten sollt', meint er, würden wir besser bestehen als die theologischen Schwung- und Kraftmänner; auch besser als die theologischen Handwer- ker, Modeschneider, Bordenwürker, Ra- firer und Frisirer, die die Glaubenslehr ad genium saeculi accomodiren, daran schnei- dern, verbrämen, wegputzen, kräuseln und staffiren, daß sie ausseh' wie ein Lieb'frau- enbild beym Umgang an einem Festtag' und dabey ihrer herrlichen erhabnen Einfalt ver- lustig geh; auch besser, als die exegetischen Gewürm und Jnsekten, die gierig an die Schrift fallen, und mit ihrem Saugrüssel den reinen Milchsaft in sich ziehen; aber nach der innren Struktur ihres Magens und der Beschaffenheit seiner Dauungskräft' ei- nen Chylus draus kochen, von dem sie nur
sich
gluͤklich, bey dem unablaͤßigen Hin- und Herſchwanken der Ebbe und Fluth theologi- ſcher Meinungen und Lehrſaͤtz: weil dieſe allverſchlingenden Wogen nicht eher zu uns gelangten, bis ſie ſich erſt uͤber das weite Sandgeſtad’ her abgetobt, und ihre Kraft zu verſchlingen und in ihrem Strudel fort zureißen, verlohren haͤtten. Daher, wenn der ſelge Gottesmann Luther wieder aufſte- hen, und eine Kirchenviſitation halten ſollt’, meint er, wuͤrden wir beſſer beſtehen als die theologiſchen Schwung- und Kraftmaͤnner; auch beſſer als die theologiſchen Handwer- ker, Modeſchneider, Bordenwuͤrker, Ra- firer und Friſirer, die die Glaubenslehr ad genium ſaeculi accomodiren, daran ſchnei- dern, verbraͤmen, wegputzen, kraͤuſeln und ſtaffiren, daß ſie ausſeh’ wie ein Lieb’frau- enbild beym Umgang an einem Feſttag’ und dabey ihrer herrlichen erhabnen Einfalt ver- luſtig geh; auch beſſer, als die exegetiſchen Gewuͤrm und Jnſekten, die gierig an die Schrift fallen, und mit ihrem Saugruͤſſel den reinen Milchſaft in ſich ziehen; aber nach der innren Struktur ihres Magens und der Beſchaffenheit ſeiner Dauungskraͤft’ ei- nen Chylus draus kochen, von dem ſie nur
ſich
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gluͤklich, bey dem unablaͤßigen Hin- und
Herſchwanken der Ebbe und Fluth theologi-
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allverſchlingenden Wogen nicht eher zu uns
gelangten, bis ſie ſich erſt uͤber das weite
Sandgeſtad’ her abgetobt, und ihre Kraft
zu verſchlingen und in ihrem Strudel fort
zureißen, verlohren haͤtten. Daher, wenn
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meint er, wuͤrden wir beſſer beſtehen als die
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auch beſſer als die theologiſchen Handwer-
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genium ſaeculi accomodiren, daran ſchnei-
dern, verbraͤmen, wegputzen, kraͤuſeln und
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enbild beym Umgang an einem Feſttag’ und
dabey ihrer herrlichen erhabnen Einfalt ver-
luſtig geh; auch beſſer, als die exegetiſchen
Gewuͤrm und Jnſekten, die gierig an die
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/115>, abgerufen am 08.07.2024.
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