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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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priester sagen, man brauche ihnen den evangelisch-pro-
testantischen Glauben nicht mehr zu bringen, sie be-
säßen denselben schon; aber klarer als alle theoretischen
Erörterungen beweist ein Blick auf das praktische
religiöse Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen-
teil der Fall ist.

Immerhin bleibt die Shinshu, in welcher der Geist
ihres Gründers doch noch nicht ganz erstorben ist, die
sympathischste der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues
Gegenstück bildet die Nichirensekte, auch Hokke genannt.
Ihr Gründer Rencho oder, wie sein Heiligennamen
lautet, Nichiren, ist ein jüngerer Zeitgenosse Shinrans.
Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der
Religiosität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten
der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob
sie sich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be-
fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge-
funden, daß nicht "Namu Amida Butsu" die rechte
Formel sei, sondern eine andere, die er in einem bis
dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: "Namu
myo horen gekyo"
("Ich vertraue auf die Sutra vom
geheimnisvollen Gesetz des weißen Lotus"). In diesen
Worten ist das Heil beschlossen; nur durch sie kommt
man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern
der andern Sekten; sie müssen samt ihren Meistern zur
Hölle fahren. Es ist der Geist eines fanatischen Glaubens-
eifers und einer starren Orthodoxie, der Nichiren beseelt.
Niemals und nirgends in der Geschichte des Buddhismus
ist der Buchstabe so betont worden, wie von ihm. Un-
duldsam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf
gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf seine
Fahne geschrieben. Seine Schüler haben unter Trommel-
wirbel und mit der Gebetsformel als Schlachtruf die

prieſter ſagen, man brauche ihnen den evangeliſch-pro-
teſtantiſchen Glauben nicht mehr zu bringen, ſie be-
ſäßen denſelben ſchon; aber klarer als alle theoretiſchen
Erörterungen beweiſt ein Blick auf das praktiſche
religiöſe Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen-
teil der Fall iſt.

Immerhin bleibt die Shinſhū, in welcher der Geiſt
ihres Gründers doch noch nicht ganz erſtorben iſt, die
ſympathiſchſte der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues
Gegenſtück bildet die Nichirenſekte, auch Hokke genannt.
Ihr Gründer Renchō oder, wie ſein Heiligennamen
lautet, Nichiren, iſt ein jüngerer Zeitgenoſſe Shinrans.
Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der
Religioſität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten
der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob
ſie ſich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be-
fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge-
funden, daß nicht „Namu Amida Butſu“ die rechte
Formel ſei, ſondern eine andere, die er in einem bis
dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: „Namu
myō hōren gekyō“
(„Ich vertraue auf die Sutra vom
geheimnisvollen Geſetz des weißen Lotus“). In dieſen
Worten iſt das Heil beſchloſſen; nur durch ſie kommt
man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern
der andern Sekten; ſie müſſen ſamt ihren Meiſtern zur
Hölle fahren. Es iſt der Geiſt eines fanatiſchen Glaubens-
eifers und einer ſtarren Orthodoxie, der Nichiren beſeelt.
Niemals und nirgends in der Geſchichte des Buddhismus
iſt der Buchſtabe ſo betont worden, wie von ihm. Un-
duldſam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf
gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf ſeine
Fahne geſchrieben. Seine Schüler haben unter Trommel-
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[230/0244] prieſter ſagen, man brauche ihnen den evangeliſch-pro- teſtantiſchen Glauben nicht mehr zu bringen, ſie be- ſäßen denſelben ſchon; aber klarer als alle theoretiſchen Erörterungen beweiſt ein Blick auf das praktiſche religiöſe Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen- teil der Fall iſt. Immerhin bleibt die Shinſhū, in welcher der Geiſt ihres Gründers doch noch nicht ganz erſtorben iſt, die ſympathiſchſte der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues Gegenſtück bildet die Nichirenſekte, auch Hokke genannt. Ihr Gründer Renchō oder, wie ſein Heiligennamen lautet, Nichiren, iſt ein jüngerer Zeitgenoſſe Shinrans. Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der Religioſität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob ſie ſich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be- fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge- funden, daß nicht „Namu Amida Butſu“ die rechte Formel ſei, ſondern eine andere, die er in einem bis dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: „Namu myō hōren gekyō“ („Ich vertraue auf die Sutra vom geheimnisvollen Geſetz des weißen Lotus“). In dieſen Worten iſt das Heil beſchloſſen; nur durch ſie kommt man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern der andern Sekten; ſie müſſen ſamt ihren Meiſtern zur Hölle fahren. Es iſt der Geiſt eines fanatiſchen Glaubens- eifers und einer ſtarren Orthodoxie, der Nichiren beſeelt. Niemals und nirgends in der Geſchichte des Buddhismus iſt der Buchſtabe ſo betont worden, wie von ihm. Un- duldſam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf ſeine Fahne geſchrieben. Seine Schüler haben unter Trommel- wirbel und mit der Gebetsformel als Schlachtruf die

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/244>, abgerufen am 22.11.2024.