sinnende Sichversenken, mit einem Wort: Die Ertötung der "Begierde" im Menschen ist es, was selig macht. Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem Leben abgeschlossen hat, dem können Welt und Leben nichts mehr anhaben, er ist über sie erhaben, er hat den Frieden. Wem aber das eigene "ich" noch etwas wert ist, der bleibt zu seinem eigenen Fluch gebannt an dieses "ich", und ob er auch stürbe, so kann die Seele doch nicht sterben, weil sie nicht sterben will; sie geht in einen andern Körper über, sei es eines Menschen, sei es eines Tieres, sei es gar noch eines niedrigeren Wesens. Erst wer in einer langen Reihe von Seelen- wanderungen gelernt hat, die Eigenlust und Selbstsucht des "ich" zurückzudämmen und zu vernichten, der soll wie der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgensonne aufgesogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich der ewigen Ruhe.
Zwischen dem Kagayashiki, dem Gehöfte der kaiser- lichen Universität, und dem Uenopark, in welchem der prächtige Tempel des Gongensama, des vergöttlichten Iyeyasu steht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge- nannt. Derselbe ist über und über mit Lotusblättern besät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages Lärm und Geräusch noch nicht laut geworden ist, an diesen Teich kommt und sieht die breiten Blätter der heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten Wasser liegen, dann überkommt die empfindende Seele wohl selbst ein Zustand wie eines wunschlosen Friedens, dann versteht sie, was Nirwana bedeuten soll: Es ist weder Leben noch Tod, es ist ein dämmerndes Träumen, das melancholische Vergessen des Grabes und das süße Glück des im Schlafe lächelnden Kindes. Wer es ge- sehen hat, weiß, daß der Buddhismus kein treffenderes
ſinnende Sichverſenken, mit einem Wort: Die Ertötung der „Begierde“ im Menſchen iſt es, was ſelig macht. Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem Leben abgeſchloſſen hat, dem können Welt und Leben nichts mehr anhaben, er iſt über ſie erhaben, er hat den Frieden. Wem aber das eigene „ich“ noch etwas wert iſt, der bleibt zu ſeinem eigenen Fluch gebannt an dieſes „ich“, und ob er auch ſtürbe, ſo kann die Seele doch nicht ſterben, weil ſie nicht ſterben will; ſie geht in einen andern Körper über, ſei es eines Menſchen, ſei es eines Tieres, ſei es gar noch eines niedrigeren Weſens. Erſt wer in einer langen Reihe von Seelen- wanderungen gelernt hat, die Eigenluſt und Selbſtſucht des „ich“ zurückzudämmen und zu vernichten, der ſoll wie der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgenſonne aufgeſogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich der ewigen Ruhe.
Zwiſchen dem Kagayaſhiki, dem Gehöfte der kaiſer- lichen Univerſität, und dem Uenopark, in welchem der prächtige Tempel des Gongenſama, des vergöttlichten Iyeyaſu ſteht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge- nannt. Derſelbe iſt über und über mit Lotusblättern beſät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages Lärm und Geräuſch noch nicht laut geworden iſt, an dieſen Teich kommt und ſieht die breiten Blätter der heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten Waſſer liegen, dann überkommt die empfindende Seele wohl ſelbſt ein Zuſtand wie eines wunſchloſen Friedens, dann verſteht ſie, was Nirwana bedeuten ſoll: Es iſt weder Leben noch Tod, es iſt ein dämmerndes Träumen, das melancholiſche Vergeſſen des Grabes und das ſüße Glück des im Schlafe lächelnden Kindes. Wer es ge- ſehen hat, weiß, daß der Buddhismus kein treffenderes
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ſinnende Sichverſenken, mit einem Wort: Die Ertötung
der „Begierde“ im Menſchen iſt es, was ſelig macht.
Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem
Leben abgeſchloſſen hat, dem können Welt und Leben
nichts mehr anhaben, er iſt über ſie erhaben, er hat den
Frieden. Wem aber das eigene „ich“ noch etwas wert
iſt, der bleibt zu ſeinem eigenen Fluch gebannt an dieſes
„ich“, und ob er auch ſtürbe, ſo kann die Seele doch
nicht ſterben, weil ſie nicht ſterben will; ſie geht in
einen andern Körper über, ſei es eines Menſchen, ſei
es eines Tieres, ſei es gar noch eines niedrigeren
Weſens. Erſt wer in einer langen Reihe von Seelen-
wanderungen gelernt hat, die Eigenluſt und Selbſtſucht
des „ich“ zurückzudämmen und zu vernichten, der ſoll wie
der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgenſonne
aufgeſogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich
der ewigen Ruhe.
Zwiſchen dem Kagayaſhiki, dem Gehöfte der kaiſer-
lichen Univerſität, und dem Uenopark, in welchem der
prächtige Tempel des Gongenſama, des vergöttlichten
Iyeyaſu ſteht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge-
nannt. Derſelbe iſt über und über mit Lotusblättern
beſät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages
Lärm und Geräuſch noch nicht laut geworden iſt, an
dieſen Teich kommt und ſieht die breiten Blätter der
heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten
Waſſer liegen, dann überkommt die empfindende Seele
wohl ſelbſt ein Zuſtand wie eines wunſchloſen Friedens,
dann verſteht ſie, was Nirwana bedeuten ſoll: Es iſt
weder Leben noch Tod, es iſt ein dämmerndes Träumen,
das melancholiſche Vergeſſen des Grabes und das ſüße
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/234>, abgerufen am 24.11.2024.
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