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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Entsagung tönte mir lauter als aus den leidenschaft-
lichsten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf
entgegen: "Ich elender Mensch, wer wird mich erretten
von dem Leibe dieses Todes?" Es ist kein Heiland,
der da herabschaut; denn sein zur Erde gesenktes Auge
hat keinen Blick für den Himmel und sein streng ge-
schlossener Mund öffnet sich nicht zu dem Siegesruf:
"Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!" Aber
es ist ein Mensch, der den Jammer der Welt, das Elend
der leidenden Menschheit in weichem, warmen Herzen
wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es ist die
Majestät des Leidens, die in ihm verkörpert ist, es ist
der Apostel der Entsagung, den wir da vor uns haben.

Dieselben Töne, welche der Prediger Salomos in
mächtig ergreifenden Akkorden anschlägt und die im
Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen
Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton seiner
Verkündigung. Leben ist Leiden, lehrt der indische Weise,
und wer vom Leiden befreit sein will, muß auf das
Leben verzichten. Die Phänomena des Daseins, das
Sein und Werden der Welt sind nicht Wahrheit, son-
dern Schein. Alle Freuden und Genüsse des Lebens
sind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be-
friedigen will noch kann, vielmehr den unglückseligen
Menschen, der wahnumfangen sich ihr hingiebt, in das
Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entsagen die
Kraft hat, wer den Schleier der trügerischen "Maya"
(Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt
-- das Nichts, das doch mehr ist als das Nichts. Wer
am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das
Hoffen, sondern das Entsagen, nicht das Wünschen, son-
dern das Stillsichbescheiden, nicht das Thun, sondern das
Lassen, nicht das Streben und Kämpfen, sondern das

Entſagung tönte mir lauter als aus den leidenſchaft-
lichſten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf
entgegen: „Ich elender Menſch, wer wird mich erretten
von dem Leibe dieſes Todes?“ Es iſt kein Heiland,
der da herabſchaut; denn ſein zur Erde geſenktes Auge
hat keinen Blick für den Himmel und ſein ſtreng ge-
ſchloſſener Mund öffnet ſich nicht zu dem Siegesruf:
„Seid getroſt, ich habe die Welt überwunden!“ Aber
es iſt ein Menſch, der den Jammer der Welt, das Elend
der leidenden Menſchheit in weichem, warmen Herzen
wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es iſt die
Majeſtät des Leidens, die in ihm verkörpert iſt, es iſt
der Apoſtel der Entſagung, den wir da vor uns haben.

Dieſelben Töne, welche der Prediger Salomos in
mächtig ergreifenden Akkorden anſchlägt und die im
Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen
Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton ſeiner
Verkündigung. Leben iſt Leiden, lehrt der indiſche Weiſe,
und wer vom Leiden befreit ſein will, muß auf das
Leben verzichten. Die Phänomena des Daſeins, das
Sein und Werden der Welt ſind nicht Wahrheit, ſon-
dern Schein. Alle Freuden und Genüſſe des Lebens
ſind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be-
friedigen will noch kann, vielmehr den unglückſeligen
Menſchen, der wahnumfangen ſich ihr hingiebt, in das
Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entſagen die
Kraft hat, wer den Schleier der trügeriſchen „Maya“
(Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt
— das Nichts, das doch mehr iſt als das Nichts. Wer
am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das
Hoffen, ſondern das Entſagen, nicht das Wünſchen, ſon-
dern das Stillſichbeſcheiden, nicht das Thun, ſondern das
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[219/0233] Entſagung tönte mir lauter als aus den leidenſchaft- lichſten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf entgegen: „Ich elender Menſch, wer wird mich erretten von dem Leibe dieſes Todes?“ Es iſt kein Heiland, der da herabſchaut; denn ſein zur Erde geſenktes Auge hat keinen Blick für den Himmel und ſein ſtreng ge- ſchloſſener Mund öffnet ſich nicht zu dem Siegesruf: „Seid getroſt, ich habe die Welt überwunden!“ Aber es iſt ein Menſch, der den Jammer der Welt, das Elend der leidenden Menſchheit in weichem, warmen Herzen wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es iſt die Majeſtät des Leidens, die in ihm verkörpert iſt, es iſt der Apoſtel der Entſagung, den wir da vor uns haben. Dieſelben Töne, welche der Prediger Salomos in mächtig ergreifenden Akkorden anſchlägt und die im Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton ſeiner Verkündigung. Leben iſt Leiden, lehrt der indiſche Weiſe, und wer vom Leiden befreit ſein will, muß auf das Leben verzichten. Die Phänomena des Daſeins, das Sein und Werden der Welt ſind nicht Wahrheit, ſon- dern Schein. Alle Freuden und Genüſſe des Lebens ſind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be- friedigen will noch kann, vielmehr den unglückſeligen Menſchen, der wahnumfangen ſich ihr hingiebt, in das Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entſagen die Kraft hat, wer den Schleier der trügeriſchen „Maya“ (Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt — das Nichts, das doch mehr iſt als das Nichts. Wer am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das Hoffen, ſondern das Entſagen, nicht das Wünſchen, ſon- dern das Stillſichbeſcheiden, nicht das Thun, ſondern das Laſſen, nicht das Streben und Kämpfen, ſondern das

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/233>, abgerufen am 17.05.2024.