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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er
gewisse Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber solchen
Glauben halte ich für geistige Sklaverei, welche gelehrte
Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie
groß auch der Wunsch sein möge, eine Religion zu
wählen, die Aufgabe ist unmöglich. Was wir aus-
wählen, wird Philosophie und nicht Religion sein."
Mit Recht fügt Dr. Christlieb, welchem diese Mitteilung zu
verdanken ist (Z. M. R. XII, 20), hinzu: "Kato ver-
tritt die typische Halbbildung mit ihrem rückständigen
Hochmut auf die Philosophie, von der sie freilich nur
"leviores gustus" genossen hat. Aber solche Anschau-
ungen sind thatsächlich weit verbreitet". Selbst Ito,
der weitsichtigste Staatsmann Japans, der sich mit
Vorliebe den japanischen Bismarck nennen hört, hat
sich über Religion höchst abfällig geäußert. "Ich be-
trachte", sagte er, "die Religion als ganz unnötig für
das Leben eines Volkes. Wissenschaft steht hoch über
dem Aberglauben, und was ist jede Religion, sei es
Buddhismus, sei es Christentum, anderes als Aber-
glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein
Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum
und Atheismus, die in Japan fast allgemein herrscht,
durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr
für die Nation." Und das ist derselbe Ito, welcher
auf einer Gesandtschaftsreise im Jahre 1883 "aus Ge-
sprächen mit Fürst Bismarck und Kaiser Wilhelm I.
gelernt haben soll, daß das Christentum nicht eine rein
menschliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß
und Macht, sondern eine Realität in den Herzen der
Menschen sei, welche einen Einfluß von unberechenbarem
Wert auf den einzelnen und das Volk übe, und welcher
dem Mikado empfohlen habe, es zu studieren und seine

Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er
gewiſſe Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber ſolchen
Glauben halte ich für geiſtige Sklaverei, welche gelehrte
Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie
groß auch der Wunſch ſein möge, eine Religion zu
wählen, die Aufgabe iſt unmöglich. Was wir aus-
wählen, wird Philoſophie und nicht Religion ſein.“
Mit Recht fügt Dr. Chriſtlieb, welchem dieſe Mitteilung zu
verdanken iſt (Z. M. R. XII, 20), hinzu: „Kato ver-
tritt die typiſche Halbbildung mit ihrem rückſtändigen
Hochmut auf die Philoſophie, von der ſie freilich nur
„leviores gustus“ genoſſen hat. Aber ſolche Anſchau-
ungen ſind thatſächlich weit verbreitet“. Selbſt Ito,
der weitſichtigſte Staatsmann Japans, der ſich mit
Vorliebe den japaniſchen Bismarck nennen hört, hat
ſich über Religion höchſt abfällig geäußert. „Ich be-
trachte“, ſagte er, „die Religion als ganz unnötig für
das Leben eines Volkes. Wiſſenſchaft ſteht hoch über
dem Aberglauben, und was iſt jede Religion, ſei es
Buddhismus, ſei es Chriſtentum, anderes als Aber-
glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein
Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum
und Atheismus, die in Japan faſt allgemein herrſcht,
durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr
für die Nation.“ Und das iſt derſelbe Ito, welcher
auf einer Geſandtſchaftsreiſe im Jahre 1883 „aus Ge-
ſprächen mit Fürſt Bismarck und Kaiſer Wilhelm I.
gelernt haben ſoll, daß das Chriſtentum nicht eine rein
menſchliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß
und Macht, ſondern eine Realität in den Herzen der
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[190/0204] Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er gewiſſe Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber ſolchen Glauben halte ich für geiſtige Sklaverei, welche gelehrte Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie groß auch der Wunſch ſein möge, eine Religion zu wählen, die Aufgabe iſt unmöglich. Was wir aus- wählen, wird Philoſophie und nicht Religion ſein.“ Mit Recht fügt Dr. Chriſtlieb, welchem dieſe Mitteilung zu verdanken iſt (Z. M. R. XII, 20), hinzu: „Kato ver- tritt die typiſche Halbbildung mit ihrem rückſtändigen Hochmut auf die Philoſophie, von der ſie freilich nur „leviores gustus“ genoſſen hat. Aber ſolche Anſchau- ungen ſind thatſächlich weit verbreitet“. Selbſt Ito, der weitſichtigſte Staatsmann Japans, der ſich mit Vorliebe den japaniſchen Bismarck nennen hört, hat ſich über Religion höchſt abfällig geäußert. „Ich be- trachte“, ſagte er, „die Religion als ganz unnötig für das Leben eines Volkes. Wiſſenſchaft ſteht hoch über dem Aberglauben, und was iſt jede Religion, ſei es Buddhismus, ſei es Chriſtentum, anderes als Aber- glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum und Atheismus, die in Japan faſt allgemein herrſcht, durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr für die Nation.“ Und das iſt derſelbe Ito, welcher auf einer Geſandtſchaftsreiſe im Jahre 1883 „aus Ge- ſprächen mit Fürſt Bismarck und Kaiſer Wilhelm I. gelernt haben ſoll, daß das Chriſtentum nicht eine rein menſchliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß und Macht, ſondern eine Realität in den Herzen der Menſchen ſei, welche einen Einfluß von unberechenbarem Wert auf den einzelnen und das Volk übe, und welcher dem Mikado empfohlen habe, es zu ſtudieren und ſeine

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/204>, abgerufen am 17.05.2024.