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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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dem Wachsen der Ansprüche und Lebensbedürfnisse eine
radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe-
jahre bedeutend hinausschieben; aber bislang pflegten
sich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den
Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und
sich von ihnen ernähren zu lassen. Ob sie Vermögen
haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob
sie noch kräftig genug sind, zu arbeiten und sich selbst
durchzubringen, das ist ganz gleichgültig. Das Los des
"Go-Inkyosama" ist aber auch gar zu verlockend. Man
führt ein Leben in beschaulicher Muße und überläßt
die Sorgen den andern. Auch die Frau sieht dann
noch behagliche Tage, die schönsten ihres Lebens. Von
den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra-
gen, und bei jedermann sind sie geehrt und geachtet. Denn
hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: "Vor einem
grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren!"

Es sind aber nicht die Eltern allein, welche man
zu unterstützen gewohnt ist. Bei dem ausgeprägten
Familiensinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl
und Wehe aller Familienglieder. Insbesondere ist der
älteste Sohn nicht umsonst auch der alleinige Erbe. Im
Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die
Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine
Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger
derselben als Bettler auf der Straße umherliefe. So
lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne
Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von
einem Familienkommunismus zu reden. Auch das
Adoptionssystem ist ein vortreffliches Mittel, der Ver-
armung zu steuern. Viele Sprossen verarmter Familien
oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption
Unterkunft und gute Versorgung. Japan zeichnet sich
nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meisten

dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine
radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe-
jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten
ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den
Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und
ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen
haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob
ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt
durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des
„Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man
führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt
die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann
noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von
den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra-
gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn
hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem
grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“

Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man
zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten
Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl
und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der
älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im
Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die
Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine
Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger
derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So
lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne
Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von
einem Familienkommunismus zu reden. Auch das
Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver-
armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien
oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption
Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich
nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten

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[153/0167] dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe- jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des „Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra- gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“ Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von einem Familienkommunismus zu reden. Auch das Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver- armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/167>, abgerufen am 22.11.2024.