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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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werden. Um die Eltern in der Not zu unterstützen,
hat schon manches Mädchen das Haus heimlich ver-
lassen und sich in ein Freudenhaus verkauft; und die
japanische Art der Romantik preist diese pietätvollen
Töchter als Muster der Tugendhaftigkeit. Einer meiner
Studenten erzählte mir, daß sein ältester Bruder in
einer Schlacht gegen den großen Saigo schwer ver-
wundet worden sei. Seine Wunden waren zwar nicht
tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger
Krüppel bleiben. Diesen Kummer mußte er seinen
Eltern unter allen Umständen ersparen. Er beschloß,
Selbstmord zu begehen. Auf dieser Erde taugte er ja
doch zu nichts mehr, und die christliche Lehre, daß die
Menschenseele einen unendlichen Wert in sich selbst
habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus
wußte er eher das Gegenteil. So schlitzte er sich denn
kurzer Hand den Bauch auf.

Im deutschen Volksmund heißt es: "Eher ernährt
ein Vater sieben Kinder, als sieben Kinder einen Vater".
Das ließe sich den Japanern nicht nachsagen. Es
kommt gar nicht darauf an, in welcher Weise die Eltern
an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder versäumt
haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder-
licher Müßiggänger gewesen sein, der die Seinen darben
ließ: Wenn seine Kinder herangewachsen sind, so ver-
steht es sich ganz von selbst, daß sie durch ihrer Hände
Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt
sich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das
Leben kürzer als wir, und während die Bibel die
Grenzen des Lebens auf siebenzig und, wenn es hoch
kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die
Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes-
alter von zwanzig bis vierzig, das Greisenalter von
vierzig bis sechzig Jahre. Wohl wird die Zukunft bei

werden. Um die Eltern in der Not zu unterſtützen,
hat ſchon manches Mädchen das Haus heimlich ver-
laſſen und ſich in ein Freudenhaus verkauft; und die
japaniſche Art der Romantik preiſt dieſe pietätvollen
Töchter als Muſter der Tugendhaftigkeit. Einer meiner
Studenten erzählte mir, daß ſein älteſter Bruder in
einer Schlacht gegen den großen Saigo ſchwer ver-
wundet worden ſei. Seine Wunden waren zwar nicht
tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger
Krüppel bleiben. Dieſen Kummer mußte er ſeinen
Eltern unter allen Umſtänden erſparen. Er beſchloß,
Selbſtmord zu begehen. Auf dieſer Erde taugte er ja
doch zu nichts mehr, und die chriſtliche Lehre, daß die
Menſchenſeele einen unendlichen Wert in ſich ſelbſt
habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus
wußte er eher das Gegenteil. So ſchlitzte er ſich denn
kurzer Hand den Bauch auf.

Im deutſchen Volksmund heißt es: „Eher ernährt
ein Vater ſieben Kinder, als ſieben Kinder einen Vater“.
Das ließe ſich den Japanern nicht nachſagen. Es
kommt gar nicht darauf an, in welcher Weiſe die Eltern
an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder verſäumt
haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder-
licher Müßiggänger geweſen ſein, der die Seinen darben
ließ: Wenn ſeine Kinder herangewachſen ſind, ſo ver-
ſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß ſie durch ihrer Hände
Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt
ſich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das
Leben kürzer als wir, und während die Bibel die
Grenzen des Lebens auf ſiebenzig und, wenn es hoch
kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die
Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes-
alter von zwanzig bis vierzig, das Greiſenalter von
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[152/0166] werden. Um die Eltern in der Not zu unterſtützen, hat ſchon manches Mädchen das Haus heimlich ver- laſſen und ſich in ein Freudenhaus verkauft; und die japaniſche Art der Romantik preiſt dieſe pietätvollen Töchter als Muſter der Tugendhaftigkeit. Einer meiner Studenten erzählte mir, daß ſein älteſter Bruder in einer Schlacht gegen den großen Saigo ſchwer ver- wundet worden ſei. Seine Wunden waren zwar nicht tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger Krüppel bleiben. Dieſen Kummer mußte er ſeinen Eltern unter allen Umſtänden erſparen. Er beſchloß, Selbſtmord zu begehen. Auf dieſer Erde taugte er ja doch zu nichts mehr, und die chriſtliche Lehre, daß die Menſchenſeele einen unendlichen Wert in ſich ſelbſt habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus wußte er eher das Gegenteil. So ſchlitzte er ſich denn kurzer Hand den Bauch auf. Im deutſchen Volksmund heißt es: „Eher ernährt ein Vater ſieben Kinder, als ſieben Kinder einen Vater“. Das ließe ſich den Japanern nicht nachſagen. Es kommt gar nicht darauf an, in welcher Weiſe die Eltern an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder verſäumt haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder- licher Müßiggänger geweſen ſein, der die Seinen darben ließ: Wenn ſeine Kinder herangewachſen ſind, ſo ver- ſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß ſie durch ihrer Hände Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt ſich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das Leben kürzer als wir, und während die Bibel die Grenzen des Lebens auf ſiebenzig und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes- alter von zwanzig bis vierzig, das Greiſenalter von vierzig bis ſechzig Jahre. Wohl wird die Zukunft bei

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/166>, abgerufen am 22.11.2024.