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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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Graf zu, müssen tausend Unbegreiflichkeiten in der Me-
dicin, in der Physik, in der Chymie angetroffen haben,
und es wird Jhnen nie eingefallen seyn, diese Wissen-
schaften deswegen für Träume und Jrrthümer zu halten.

Hat uns nun Gott, fuhr ich fort, in der christ-
lichen Religion der Vernunft unbegreifliche Wahrheiten
offenbahren wollen, die ihn und seinen Willen betreffen,
so mußte er das durch Zeichen thun, die wir verstehen
konnten, und diese Zeichen konnten keine andre als Worte
seyn. Jn der Sprache der Menschen aber waren keine
Worte vorhanden, mit denen genau die Begriffe verbun-
den waren, die er uns mittheilen wollte. Denn wir kön-
nen ja zur Bezeichnung uns ganz unbekannter Begriffe
keine diesen Begriffen völlig anpassende Worte haben.
Gott mußte also, um uns seine geheimen Wahrheiten
bekannt zu machen, solche uns bekannte Worte brauchen,
deren Begriffe den uns unbekannten Wahrheiten, die er
uns eröffnen wollte, unter allen möglichen am nächsten
kamen. Diese Worte können also Nebenbedeutungen
haben, sie können etwas zu viel oder zu wenig sagen, in
den Begriffen, die wir mit ihnen verbinden, kann irgend
etwas unvollkommenes liegen. Daher dürfen wir ihre
Bedeutungen nicht in ihrer ganzen Ausdehnung und mit
allen ihren Folgen auf die uns durch sie bekannt gemach-
ten geheimen Wahrheiten anwenden: sondern wir müssen
nur ihren nächsten und allgemeinen Sinn dazu brauchen,
und alles Unvollkommene davon absondern.

Jch erläuterte dem Grafen diese Anmerkung durch
ein paar Beyspiele, durch die er sie sehr ins Licht gesetzt
fand. Bey dem Verhältnisse zwischen einem Vater und
Sohn, sagte ich, haben wir diese Nebenvorstellungen:
der Vater muß vor dem Sohn gewesen seyn, er muß ein
gewisses Alter erreicht haben, ehe er dem Sohn gezeugt

hat,



Graf zu, muͤſſen tauſend Unbegreiflichkeiten in der Me-
dicin, in der Phyſik, in der Chymie angetroffen haben,
und es wird Jhnen nie eingefallen ſeyn, dieſe Wiſſen-
ſchaften deswegen fuͤr Traͤume und Jrrthuͤmer zu halten.

Hat uns nun Gott, fuhr ich fort, in der chriſt-
lichen Religion der Vernunft unbegreifliche Wahrheiten
offenbahren wollen, die ihn und ſeinen Willen betreffen,
ſo mußte er das durch Zeichen thun, die wir verſtehen
konnten, und dieſe Zeichen konnten keine andre als Worte
ſeyn. Jn der Sprache der Menſchen aber waren keine
Worte vorhanden, mit denen genau die Begriffe verbun-
den waren, die er uns mittheilen wollte. Denn wir koͤn-
nen ja zur Bezeichnung uns ganz unbekannter Begriffe
keine dieſen Begriffen voͤllig anpaſſende Worte haben.
Gott mußte alſo, um uns ſeine geheimen Wahrheiten
bekannt zu machen, ſolche uns bekannte Worte brauchen,
deren Begriffe den uns unbekannten Wahrheiten, die er
uns eroͤffnen wollte, unter allen moͤglichen am naͤchſten
kamen. Dieſe Worte koͤnnen alſo Nebenbedeutungen
haben, ſie koͤnnen etwas zu viel oder zu wenig ſagen, in
den Begriffen, die wir mit ihnen verbinden, kann irgend
etwas unvollkommenes liegen. Daher duͤrfen wir ihre
Bedeutungen nicht in ihrer ganzen Ausdehnung und mit
allen ihren Folgen auf die uns durch ſie bekannt gemach-
ten geheimen Wahrheiten anwenden: ſondern wir muͤſſen
nur ihren naͤchſten und allgemeinen Sinn dazu brauchen,
und alles Unvollkommene davon abſondern.

Jch erlaͤuterte dem Grafen dieſe Anmerkung durch
ein paar Beyſpiele, durch die er ſie ſehr ins Licht geſetzt
fand. Bey dem Verhaͤltniſſe zwiſchen einem Vater und
Sohn, ſagte ich, haben wir dieſe Nebenvorſtellungen:
der Vater muß vor dem Sohn geweſen ſeyn, er muß ein
gewiſſes Alter erreicht haben, ehe er dem Sohn gezeugt

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[154/0166] Graf zu, muͤſſen tauſend Unbegreiflichkeiten in der Me- dicin, in der Phyſik, in der Chymie angetroffen haben, und es wird Jhnen nie eingefallen ſeyn, dieſe Wiſſen- ſchaften deswegen fuͤr Traͤume und Jrrthuͤmer zu halten. Hat uns nun Gott, fuhr ich fort, in der chriſt- lichen Religion der Vernunft unbegreifliche Wahrheiten offenbahren wollen, die ihn und ſeinen Willen betreffen, ſo mußte er das durch Zeichen thun, die wir verſtehen konnten, und dieſe Zeichen konnten keine andre als Worte ſeyn. Jn der Sprache der Menſchen aber waren keine Worte vorhanden, mit denen genau die Begriffe verbun- den waren, die er uns mittheilen wollte. Denn wir koͤn- nen ja zur Bezeichnung uns ganz unbekannter Begriffe keine dieſen Begriffen voͤllig anpaſſende Worte haben. Gott mußte alſo, um uns ſeine geheimen Wahrheiten bekannt zu machen, ſolche uns bekannte Worte brauchen, deren Begriffe den uns unbekannten Wahrheiten, die er uns eroͤffnen wollte, unter allen moͤglichen am naͤchſten kamen. Dieſe Worte koͤnnen alſo Nebenbedeutungen haben, ſie koͤnnen etwas zu viel oder zu wenig ſagen, in den Begriffen, die wir mit ihnen verbinden, kann irgend etwas unvollkommenes liegen. Daher duͤrfen wir ihre Bedeutungen nicht in ihrer ganzen Ausdehnung und mit allen ihren Folgen auf die uns durch ſie bekannt gemach- ten geheimen Wahrheiten anwenden: ſondern wir muͤſſen nur ihren naͤchſten und allgemeinen Sinn dazu brauchen, und alles Unvollkommene davon abſondern. Jch erlaͤuterte dem Grafen dieſe Anmerkung durch ein paar Beyſpiele, durch die er ſie ſehr ins Licht geſetzt fand. Bey dem Verhaͤltniſſe zwiſchen einem Vater und Sohn, ſagte ich, haben wir dieſe Nebenvorſtellungen: der Vater muß vor dem Sohn geweſen ſeyn, er muß ein gewiſſes Alter erreicht haben, ehe er dem Sohn gezeugt hat,

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/166>, abgerufen am 07.05.2024.