das gemeinschaftliche Interesse der Christenheit eine Antiquität, und das Europäische Gleichge- wicht eine todte Formel geworden ist. Man hat den Geist der Staaten-Verbindungen in einer besondern Disciplin, und den Buchstaben dersel- ben in einer andern besonderen, aufzufassen ge- sucht; und so ist ein vermeintliches natürliches Völkerrecht, und ein sogenanntes positives ent- standen. Damit nun ist eine eigentliche Nego- ciation unmöglich geworden: wer von den beiden streitenden Partheien den Besitz und den Buch- staben für sich hat, appellirt unaufhörlich von diesem Buchstaben an denselben, während der andern Parthei nichts übrig bleibt, als sich auf das ganz wesenlose natürliche Recht zu berufen. Beide Partheien also stehen, jede für sich, auf einem ganz verschiedenen Boden, jede in einer andern Welt; sie haben die Eine Eigenschaft gu- ter Parth[ - 2 Zeichen fehlen]en, ein besonderes Interesse; aber die andere eben so nothwendige Eigenschaft, das gemeinschaftliche Interesse, das Interesse an ir- gend einem Ganzen, worin beide begriffen wären, fehlt, oder wird wenigstens nicht von beiden er- kannt und anerkannt. Also ist kein Richter zwi- schen beiden gedenkbar; denn, wie ich oben ge- zeigt habe, ist ja der Richter nichts anders als der Repräsentant jenes zwischen beiden Gemein-
das gemeinſchaftliche Intereſſe der Chriſtenheit eine Antiquitaͤt, und das Europaͤiſche Gleichge- wicht eine todte Formel geworden iſt. Man hat den Geiſt der Staaten-Verbindungen in einer beſondern Disciplin, und den Buchſtaben derſel- ben in einer andern beſonderen, aufzufaſſen ge- ſucht; und ſo iſt ein vermeintliches natuͤrliches Voͤlkerrecht, und ein ſogenanntes poſitives ent- ſtanden. Damit nun iſt eine eigentliche Nego- ciation unmoͤglich geworden: wer von den beiden ſtreitenden Partheien den Beſitz und den Buch- ſtaben fuͤr ſich hat, appellirt unaufhoͤrlich von dieſem Buchſtaben an denſelben, waͤhrend der andern Parthei nichts uͤbrig bleibt, als ſich auf das ganz weſenloſe natuͤrliche Recht zu berufen. Beide Partheien alſo ſtehen, jede fuͤr ſich, auf einem ganz verſchiedenen Boden, jede in einer andern Welt; ſie haben die Eine Eigenſchaft gu- ter Parth[ – 2 Zeichen fehlen]en, ein beſonderes Intereſſe; aber die andere eben ſo nothwendige Eigenſchaft, das gemeinſchaftliche Intereſſe, das Intereſſe an ir- gend einem Ganzen, worin beide begriffen waͤren, fehlt, oder wird wenigſtens nicht von beiden er- kannt und anerkannt. Alſo iſt kein Richter zwi- ſchen beiden gedenkbar; denn, wie ich oben ge- zeigt habe, iſt ja der Richter nichts anders als der Repraͤſentant jenes zwiſchen beiden Gemein-
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das gemeinſchaftliche Intereſſe der Chriſtenheit
eine Antiquitaͤt, und das Europaͤiſche Gleichge-
wicht eine todte Formel geworden iſt. Man hat
den Geiſt der Staaten-Verbindungen in einer
beſondern Disciplin, und den Buchſtaben derſel-
ben in einer andern beſonderen, aufzufaſſen ge-
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Voͤlkerrecht, und ein ſogenanntes poſitives ent-
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ciation unmoͤglich geworden: wer von den beiden
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ſtaben fuͤr ſich hat, appellirt unaufhoͤrlich von
dieſem Buchſtaben an denſelben, waͤhrend der
andern Parthei nichts uͤbrig bleibt, als ſich auf
das ganz weſenloſe natuͤrliche Recht zu berufen.
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einem ganz verſchiedenen Boden, jede in einer
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die andere eben ſo nothwendige Eigenſchaft, das
gemeinſchaftliche Intereſſe, das Intereſſe an ir-
gend einem Ganzen, worin beide begriffen waͤren,
fehlt, oder wird wenigſtens nicht von beiden er-
kannt und anerkannt. Alſo iſt kein Richter zwi-
ſchen beiden gedenkbar; denn, wie ich oben ge-
zeigt habe, iſt ja der Richter nichts anders als
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/209>, abgerufen am 22.11.2024.
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