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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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hat, kurz, daß Ideen galten, daß das lebendige,
freie Leben mit einander rechtete, daß es, außer
den gegenseitig stipulirten Rechten und Besitzthü-
mern, auf noch etwas Andres, Unsichtbares und
Heiliges, ankam.

Wenn man in solchen Tractaten nichts als den
Buchstaben sehen will; wenn man nicht zugleich
die Geschichte der Negociationen, aus denen der
Tractat hervorgegangen ist, zu Rathe zieht;
wenn man das Gesetz ohne den Prozeß, aus
welchem es erzeugt worden, kurz, wenn man es
für sich als Begriff, nicht in seinem Zusammen-
hange mit dem Ganzen und im Werden, betrach-
tet: so kann es niemals zur Grundlage eines
neuen Prozesses, einer neuen Negociation, dienen.
Wie möchte ein todtes Wort zur Norm einer
neuen lebendigen Verhandlung werden! Alles
kommt darauf an, den neuen Prozeß lebendig
an die alten anzureihen, und die gesammten
Verhältnisse der beiden Staaten als einen unauf-
hörlichen und lebendigen Verkehr anzusehen.

Diese Kunst der höheren Diplomatie ist in
neueren Zeiten mit vielen andern erhabenen Kün-
sten verloren gegangen. Geist, Leben und Bewe-
gung, die ursprünglichen Eigenschaften aller Trac-
taten und von dem Buchstaben derselben unzer-
trennlich, haben sich wirklich getrennt, seitdem

hat, kurz, daß Ideen galten, daß das lebendige,
freie Leben mit einander rechtete, daß es, außer
den gegenſeitig ſtipulirten Rechten und Beſitzthuͤ-
mern, auf noch etwas Andres, Unſichtbares und
Heiliges, ankam.

Wenn man in ſolchen Tractaten nichts als den
Buchſtaben ſehen will; wenn man nicht zugleich
die Geſchichte der Negociationen, aus denen der
Tractat hervorgegangen iſt, zu Rathe zieht;
wenn man das Geſetz ohne den Prozeß, aus
welchem es erzeugt worden, kurz, wenn man es
fuͤr ſich als Begriff, nicht in ſeinem Zuſammen-
hange mit dem Ganzen und im Werden, betrach-
tet: ſo kann es niemals zur Grundlage eines
neuen Prozeſſes, einer neuen Negociation, dienen.
Wie moͤchte ein todtes Wort zur Norm einer
neuen lebendigen Verhandlung werden! Alles
kommt darauf an, den neuen Prozeß lebendig
an die alten anzureihen, und die geſammten
Verhaͤltniſſe der beiden Staaten als einen unauf-
hoͤrlichen und lebendigen Verkehr anzuſehen.

Dieſe Kunſt der hoͤheren Diplomatie iſt in
neueren Zeiten mit vielen andern erhabenen Kuͤn-
ſten verloren gegangen. Geiſt, Leben und Bewe-
gung, die urſpruͤnglichen Eigenſchaften aller Trac-
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[174/0208] hat, kurz, daß Ideen galten, daß das lebendige, freie Leben mit einander rechtete, daß es, außer den gegenſeitig ſtipulirten Rechten und Beſitzthuͤ- mern, auf noch etwas Andres, Unſichtbares und Heiliges, ankam. Wenn man in ſolchen Tractaten nichts als den Buchſtaben ſehen will; wenn man nicht zugleich die Geſchichte der Negociationen, aus denen der Tractat hervorgegangen iſt, zu Rathe zieht; wenn man das Geſetz ohne den Prozeß, aus welchem es erzeugt worden, kurz, wenn man es fuͤr ſich als Begriff, nicht in ſeinem Zuſammen- hange mit dem Ganzen und im Werden, betrach- tet: ſo kann es niemals zur Grundlage eines neuen Prozeſſes, einer neuen Negociation, dienen. Wie moͤchte ein todtes Wort zur Norm einer neuen lebendigen Verhandlung werden! Alles kommt darauf an, den neuen Prozeß lebendig an die alten anzureihen, und die geſammten Verhaͤltniſſe der beiden Staaten als einen unauf- hoͤrlichen und lebendigen Verkehr anzuſehen. Dieſe Kunſt der hoͤheren Diplomatie iſt in neueren Zeiten mit vielen andern erhabenen Kuͤn- ſten verloren gegangen. Geiſt, Leben und Bewe- gung, die urſpruͤnglichen Eigenſchaften aller Trac- taten und von dem Buchſtaben derſelben unzer- trennlich, haben ſich wirklich getrennt, ſeitdem

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/208>, abgerufen am 22.11.2024.