Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_072.001 Jn diesem Gedichte wird zuletzt ein kleines Geschehen beschrieben, das pmu_072.002 Natürlich wollen wir nicht behaupten, daß sich alle Lyrik in diese Kategorien pmu_072.012 10. Je nach der Art, wie sich das Jch des Dichters in einem Lyrikon pmu_072.038 pmu_072.001 Jn diesem Gedichte wird zuletzt ein kleines Geschehen beschrieben, das pmu_072.002 Natürlich wollen wir nicht behaupten, daß sich alle Lyrik in diese Kategorien pmu_072.012 10. Je nach der Art, wie sich das Jch des Dichters in einem Lyrikon pmu_072.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0082" n="72"/> <lb n="pmu_072.001"/> <p>Jn diesem Gedichte wird zuletzt ein kleines Geschehen beschrieben, das <lb n="pmu_072.002"/> an sich gar keinen Wert oder Jnteresse hätte, das ein solches nur dadurch <lb n="pmu_072.003"/> bekommt, daß es eben symbolischen Charakter hat, daß es Gefühle und <lb n="pmu_072.004"/> Stimmungen erweckt. Wie in aller Lyrik ist die Handlung nur ideal, nicht <lb n="pmu_072.005"/> material, wie man das auch ausdrücken kann. Darum wird es also niemand <lb n="pmu_072.006"/> einfallen, dieses Gedicht ein episches zu nennen. Es ist durchaus lyrisch, es <lb n="pmu_072.007"/> kommt nur auf das Gefühl an, für das das Gegenständliche nur Mittel ist. <lb n="pmu_072.008"/> Weil aber das ganze Gedicht auf diesem Mittel ruht, nirgends sich ein unmittelbarer <lb n="pmu_072.009"/> Ausdruck des Dichters findet, so sehen wir es als ein Beispiel <lb n="pmu_072.010"/> der <hi rendition="#g">mittelbaren</hi> Lyrik an.</p> <lb n="pmu_072.011"/> <p> Natürlich wollen wir nicht behaupten, daß sich alle Lyrik in diese Kategorien <lb n="pmu_072.012"/> einordnen lasse. Eine solche klare Einschachtelung ist nirgends möglich <lb n="pmu_072.013"/> in der Ästhetik. Wohl aber hätten wir in jenen beiden Typen der Lyrik <lb n="pmu_072.014"/> zwei charakteristische Formen, deren Züge sich sehr oft ziemlich rein <lb n="pmu_072.015"/> finden, und die auch in den Zwischenformen sich nachweisen lassen. Denn <lb n="pmu_072.016"/> sehr viele Gedichte sind Zwischen- und Mischformen, indem nämlich der <lb n="pmu_072.017"/> Dichter eine Zeitlang rein gegenständlich schildert oder erzählt und dann <lb n="pmu_072.018"/> plötzlich mit subjektiven Ausrufen oder Reflexionen unterbricht. So hätten <lb n="pmu_072.019"/> wir in Goethes „Willkommen und Abschied“ zunächst ein lyrisches <lb n="pmu_072.020"/> Gedicht vom erzählend-mittelbaren Typus. Jn der Hauptsache erzählt <lb n="pmu_072.021"/> der Dichter nur seinen Ritt zum Willkommen und dann den Abschied. <lb n="pmu_072.022"/> Aber zuweilen unterbricht er das mit einem unmittelbaren Ausruf seines <lb n="pmu_072.023"/> Gefühls, wie z. B. mit dem Ausruf am Schlusse: „Und doch, welch Glück, <lb n="pmu_072.024"/> geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Es hat nicht <lb n="pmu_072.025"/> an Theoretikern gefehlt, die das als Stillosigkeit bezeichnet haben. Für <lb n="pmu_072.026"/> mein Gefühl geht das viel zu weit und hieße die ästhetischen Theorien <lb n="pmu_072.027"/> überschätzen. Diese sollen dafür da sein, das Kunstgenießen zu fördern, <lb n="pmu_072.028"/> nicht aber das Kunstgenießen durch Aufstellen von künstlichen Barrieren <lb n="pmu_072.029"/> und Vorschriften zu hemmen und zu unterbrechen. Da erfahrungsgemäß <lb n="pmu_072.030"/> von solchen Mischformen stärkste und echteste Wirkungen ausgegangen <lb n="pmu_072.031"/> sind (und gerade z. B. diesem Goetheschen Gedichte gegenüber jenes Verdikt <lb n="pmu_072.032"/> als lächerliche Pedanterie wirkt), so tut die Ästhetik gut daran, diese <lb n="pmu_072.033"/> Erfahrungen anzuerkennen und jene Mischform als gleichberechtigte Stilgattung <lb n="pmu_072.034"/> gelten zu lassen. Daß darin auch Minderwertiges geleistet wird, <lb n="pmu_072.035"/> teilt sie leider mit andern, durch die Ästhetik autorisierten Stilgattungen. <lb n="pmu_072.036"/> Stilreinheit allein ist noch keine Garantie für den Wert.</p> <lb n="pmu_072.037"/> </div> <div n="3"> <p> 10. Je nach der Art, wie sich das Jch des Dichters in einem Lyrikon <lb n="pmu_072.038"/> darstellt, hat man ebenfalls Unterschiede gemacht und spricht von Jchlyrik, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0082]
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Jn diesem Gedichte wird zuletzt ein kleines Geschehen beschrieben, das pmu_072.002
an sich gar keinen Wert oder Jnteresse hätte, das ein solches nur dadurch pmu_072.003
bekommt, daß es eben symbolischen Charakter hat, daß es Gefühle und pmu_072.004
Stimmungen erweckt. Wie in aller Lyrik ist die Handlung nur ideal, nicht pmu_072.005
material, wie man das auch ausdrücken kann. Darum wird es also niemand pmu_072.006
einfallen, dieses Gedicht ein episches zu nennen. Es ist durchaus lyrisch, es pmu_072.007
kommt nur auf das Gefühl an, für das das Gegenständliche nur Mittel ist. pmu_072.008
Weil aber das ganze Gedicht auf diesem Mittel ruht, nirgends sich ein unmittelbarer pmu_072.009
Ausdruck des Dichters findet, so sehen wir es als ein Beispiel pmu_072.010
der mittelbaren Lyrik an.
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Natürlich wollen wir nicht behaupten, daß sich alle Lyrik in diese Kategorien pmu_072.012
einordnen lasse. Eine solche klare Einschachtelung ist nirgends möglich pmu_072.013
in der Ästhetik. Wohl aber hätten wir in jenen beiden Typen der Lyrik pmu_072.014
zwei charakteristische Formen, deren Züge sich sehr oft ziemlich rein pmu_072.015
finden, und die auch in den Zwischenformen sich nachweisen lassen. Denn pmu_072.016
sehr viele Gedichte sind Zwischen- und Mischformen, indem nämlich der pmu_072.017
Dichter eine Zeitlang rein gegenständlich schildert oder erzählt und dann pmu_072.018
plötzlich mit subjektiven Ausrufen oder Reflexionen unterbricht. So hätten pmu_072.019
wir in Goethes „Willkommen und Abschied“ zunächst ein lyrisches pmu_072.020
Gedicht vom erzählend-mittelbaren Typus. Jn der Hauptsache erzählt pmu_072.021
der Dichter nur seinen Ritt zum Willkommen und dann den Abschied. pmu_072.022
Aber zuweilen unterbricht er das mit einem unmittelbaren Ausruf seines pmu_072.023
Gefühls, wie z. B. mit dem Ausruf am Schlusse: „Und doch, welch Glück, pmu_072.024
geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Es hat nicht pmu_072.025
an Theoretikern gefehlt, die das als Stillosigkeit bezeichnet haben. Für pmu_072.026
mein Gefühl geht das viel zu weit und hieße die ästhetischen Theorien pmu_072.027
überschätzen. Diese sollen dafür da sein, das Kunstgenießen zu fördern, pmu_072.028
nicht aber das Kunstgenießen durch Aufstellen von künstlichen Barrieren pmu_072.029
und Vorschriften zu hemmen und zu unterbrechen. Da erfahrungsgemäß pmu_072.030
von solchen Mischformen stärkste und echteste Wirkungen ausgegangen pmu_072.031
sind (und gerade z. B. diesem Goetheschen Gedichte gegenüber jenes Verdikt pmu_072.032
als lächerliche Pedanterie wirkt), so tut die Ästhetik gut daran, diese pmu_072.033
Erfahrungen anzuerkennen und jene Mischform als gleichberechtigte Stilgattung pmu_072.034
gelten zu lassen. Daß darin auch Minderwertiges geleistet wird, pmu_072.035
teilt sie leider mit andern, durch die Ästhetik autorisierten Stilgattungen. pmu_072.036
Stilreinheit allein ist noch keine Garantie für den Wert.
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10. Je nach der Art, wie sich das Jch des Dichters in einem Lyrikon pmu_072.038
darstellt, hat man ebenfalls Unterschiede gemacht und spricht von Jchlyrik,
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