Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_073.001 Das Jch nämlich, das in einer Dichtung spricht, ist niemals -- wenn pmu_073.005 Die Gründe, die einen Dichter dazu bewegen können, eine Maske vorzunehmen pmu_073.034 pmu_073.001 Das Jch nämlich, das in einer Dichtung spricht, ist niemals — wenn pmu_073.005 Die Gründe, die einen Dichter dazu bewegen können, eine Maske vorzunehmen pmu_073.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0083" n="73"/><lb n="pmu_073.001"/> Maskenlyrik und Rollenlyrik. Diese Einteilung kann sicherlich praktische <lb n="pmu_073.002"/> Zwecke erfüllen, fundamentale Verschiedenheiten sind damit nicht ausgedrückt, <lb n="pmu_073.003"/> weder vom Standpunkte des Dichters aus noch für den Genießenden.</p> <lb n="pmu_073.004"/> <p> Das Jch nämlich, das in einer Dichtung spricht, ist niemals — wenn <lb n="pmu_073.005"/> anders irgendeine künstlerische Wirkung von dem Gedichte ausgehen soll <lb n="pmu_073.006"/> — das individuelle, empirische Jch des Dichters. Meist ist es ein ganz <lb n="pmu_073.007"/> typisches Jch, was da spricht. Was z. B. zwingt uns, bei dem Gedichte <lb n="pmu_073.008"/> „An den Mond“ an den weiland großherzoglich-weimarischen Hofbeamten <lb n="pmu_073.009"/> J. W. Goethe zu denken? Es ist ein typisches Jch, das sich in Situationen <lb n="pmu_073.010"/> hineinversetzt, die auch ganz typisiert, oft auch von der Phantasie stark <lb n="pmu_073.011"/> abgeändert sind. Von da aber ist es nur ein Schritt zu jener Lyrik, die dem <lb n="pmu_073.012"/> ganzen Jch ein Kostüm umhängt, das es unkenntlich macht, oder die das <lb n="pmu_073.013"/> Jch sich in eine oder mehrere ganz fremde Rollen hineinträumen läßt. <lb n="pmu_073.014"/> Wenn es sich um ganz spezifisch individuelle Erlebnisse handelt, so hat das <lb n="pmu_073.015"/> Gedicht keine künstlerische Wirkung. Diese tritt erst dann ein, wenn die <lb n="pmu_073.016"/> dargestellten Jnhalte zu gleicher Zeit allgemein menschlicher Natur sind. <lb n="pmu_073.017"/> Darauf kommt es an, nicht auf den Träger dieser Stimmungen. Nicht <lb n="pmu_073.018"/> <hi rendition="#g">wer</hi> erlebt, sondern <hi rendition="#g">was</hi> erlebt wird, ist für den Dichter wie für den Genießenden <lb n="pmu_073.019"/> das Entscheidende. Jn der Tat pflegt der Leser in der Regel <lb n="pmu_073.020"/> völlig das zufällig empirische Jch, das im Gedichte spricht, zu vergessen, <lb n="pmu_073.021"/> oder höchstens als Nebenumstand ist's im Bewußtsein. Ob in Goethes <lb n="pmu_073.022"/> Gedicht: „Nur wer die Sehnsucht kennt“ Goethe selber oder Mignon <lb n="pmu_073.023"/> spricht, ist für den Genießenden ziemlich nebensächlich. Die Hauptsache ist, <lb n="pmu_073.024"/> daß er selber mit seinem — metaphysisch geredet — absoluten Jch das nacherleben <lb n="pmu_073.025"/> kann, d. h., daß ein typisch menschlicher Kern in dem Gedichte enthalten <lb n="pmu_073.026"/> ist. Und nur auf diesen kommt es an, nicht auf das äußere Gewand. <lb n="pmu_073.027"/> Das gilt sowohl für den Dichter wie für den Genießenden, und darum <lb n="pmu_073.028"/> meinen wir, daß ein fundamentaler Unterschied in jener Einteilung nicht <lb n="pmu_073.029"/> enthalten ist. Sie gibt sozusagen nur Grade der Objektivation. Der unterste <lb n="pmu_073.030"/> wäre das ganz individuelle Gelegenheitsgedicht, das indes erst zum Kunstwerk <lb n="pmu_073.031"/> wird, wenn es im Goetheschen Sinne erfaßt wird. Für die ästhetische <lb n="pmu_073.032"/> Wirkung kommt es indessen nur auf den allgemein menschlichen Kern an.</p> <lb n="pmu_073.033"/> <p> Die Gründe, die einen Dichter dazu bewegen können, eine Maske vorzunehmen <lb n="pmu_073.034"/> oder sich in eine Rolle hineinzuversetzen, können sehr verschieden <lb n="pmu_073.035"/> sein. Zuweilen mag es eine gewisse Schamhaftigkeit sein, öfter jedoch <lb n="pmu_073.036"/> ist es wohl darum, weil historische oder mythologische Gestalten gleichsam <lb n="pmu_073.037"/> größere Dimensionen gestatten, wie es auch eine Erfahrungstatsache <lb n="pmu_073.038"/> ist, daß auf der Bühne dieselben Motive wuchtiger und bedeutender wirken, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0083]
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Maskenlyrik und Rollenlyrik. Diese Einteilung kann sicherlich praktische pmu_073.002
Zwecke erfüllen, fundamentale Verschiedenheiten sind damit nicht ausgedrückt, pmu_073.003
weder vom Standpunkte des Dichters aus noch für den Genießenden.
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Das Jch nämlich, das in einer Dichtung spricht, ist niemals — wenn pmu_073.005
anders irgendeine künstlerische Wirkung von dem Gedichte ausgehen soll pmu_073.006
— das individuelle, empirische Jch des Dichters. Meist ist es ein ganz pmu_073.007
typisches Jch, was da spricht. Was z. B. zwingt uns, bei dem Gedichte pmu_073.008
„An den Mond“ an den weiland großherzoglich-weimarischen Hofbeamten pmu_073.009
J. W. Goethe zu denken? Es ist ein typisches Jch, das sich in Situationen pmu_073.010
hineinversetzt, die auch ganz typisiert, oft auch von der Phantasie stark pmu_073.011
abgeändert sind. Von da aber ist es nur ein Schritt zu jener Lyrik, die dem pmu_073.012
ganzen Jch ein Kostüm umhängt, das es unkenntlich macht, oder die das pmu_073.013
Jch sich in eine oder mehrere ganz fremde Rollen hineinträumen läßt. pmu_073.014
Wenn es sich um ganz spezifisch individuelle Erlebnisse handelt, so hat das pmu_073.015
Gedicht keine künstlerische Wirkung. Diese tritt erst dann ein, wenn die pmu_073.016
dargestellten Jnhalte zu gleicher Zeit allgemein menschlicher Natur sind. pmu_073.017
Darauf kommt es an, nicht auf den Träger dieser Stimmungen. Nicht pmu_073.018
wer erlebt, sondern was erlebt wird, ist für den Dichter wie für den Genießenden pmu_073.019
das Entscheidende. Jn der Tat pflegt der Leser in der Regel pmu_073.020
völlig das zufällig empirische Jch, das im Gedichte spricht, zu vergessen, pmu_073.021
oder höchstens als Nebenumstand ist's im Bewußtsein. Ob in Goethes pmu_073.022
Gedicht: „Nur wer die Sehnsucht kennt“ Goethe selber oder Mignon pmu_073.023
spricht, ist für den Genießenden ziemlich nebensächlich. Die Hauptsache ist, pmu_073.024
daß er selber mit seinem — metaphysisch geredet — absoluten Jch das nacherleben pmu_073.025
kann, d. h., daß ein typisch menschlicher Kern in dem Gedichte enthalten pmu_073.026
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Das gilt sowohl für den Dichter wie für den Genießenden, und darum pmu_073.028
meinen wir, daß ein fundamentaler Unterschied in jener Einteilung nicht pmu_073.029
enthalten ist. Sie gibt sozusagen nur Grade der Objektivation. Der unterste pmu_073.030
wäre das ganz individuelle Gelegenheitsgedicht, das indes erst zum Kunstwerk pmu_073.031
wird, wenn es im Goetheschen Sinne erfaßt wird. Für die ästhetische pmu_073.032
Wirkung kommt es indessen nur auf den allgemein menschlichen Kern an.
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Die Gründe, die einen Dichter dazu bewegen können, eine Maske vorzunehmen pmu_073.034
oder sich in eine Rolle hineinzuversetzen, können sehr verschieden pmu_073.035
sein. Zuweilen mag es eine gewisse Schamhaftigkeit sein, öfter jedoch pmu_073.036
ist es wohl darum, weil historische oder mythologische Gestalten gleichsam pmu_073.037
größere Dimensionen gestatten, wie es auch eine Erfahrungstatsache pmu_073.038
ist, daß auf der Bühne dieselben Motive wuchtiger und bedeutender wirken,
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