Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_064.001 5. Freilich erwachsen nun eine ganze Reihe von Problemen, sobald pmu_064.018 Heusler stellt darum der Sammeltheorie eine andre gegenüber, die pmu_064.031 pmu_064.001 5. Freilich erwachsen nun eine ganze Reihe von Problemen, sobald pmu_064.018 Heusler stellt darum der Sammeltheorie eine andre gegenüber, die pmu_064.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0074" n="64"/><lb n="pmu_064.001"/> mit Musik kombinierten Vortrag. Aus diesem Umstand, daß sie mündlich <lb n="pmu_064.002"/> vor einer Masse von Zuhörern vorgetragen wurden, erklärt sich der <lb n="pmu_064.003"/> Stil dieser Werke, der in vielem dem Drama nahe verwandt ist, das zum <lb n="pmu_064.004"/> Teil unter ähnlichen Bedingungen sich entwickelt hat. Als Charakteristika <lb n="pmu_064.005"/> des Balladenstils ließen sich etwa nennen in formaler Hinsicht: Kürze <lb n="pmu_064.006"/> und Prägnanz des Vortrags, Raschheit des Tempos, und in inhaltlicher <lb n="pmu_064.007"/> Hinsicht: höchste Wucht der Motive, daher mit Vorliebe Kampf, Leidenschaft, <lb n="pmu_064.008"/> Tod und jenes Grausen, das von überirdischen Mächten ausgeht <lb n="pmu_064.009"/> und das in früheren Zeiten noch mehr als in unsern den Menschen bis ins <lb n="pmu_064.010"/> Jnnerste erschüttern mußte. Über die Gründe gerade dieser Stilmomente <lb n="pmu_064.011"/> aus der beabsichtigten Wirkung auf ein Massenpublikum wird unten gesprochen <lb n="pmu_064.012"/> werden, wo es sich um das Drama handelt. Derartige balladenhafte <lb n="pmu_064.013"/> Lieder scheinen nun überall den großen Epen zugrunde gelegen <lb n="pmu_064.014"/> zu haben, die wir in den Frühzeiten unsrer Literaturen finden. Wie alte <lb n="pmu_064.015"/> Säulen und Mauerreste in späteren Gebäuden erkennen wir jene noch <lb n="pmu_064.016"/> in den großen Epen.</p> <lb n="pmu_064.017"/> </div> <div n="3"> <p> 5. Freilich erwachsen nun eine ganze Reihe von Problemen, sobald <lb n="pmu_064.018"/> man diese Verarbeitung der alten Lieder genauer ins Auge faßt. Früher <lb n="pmu_064.019"/> glaubte man mit Wolf und Lachmann, daß es sich um eine Sammlung <lb n="pmu_064.020"/> und Aneinanderreihung solcher Einzellieder gehandelt habe. Dieser <lb n="pmu_064.021"/> „Sammeltheorie“ nun stehen gewichtige Bedenken entgegen. Denn nicht <lb n="pmu_064.022"/> etwa ist der Stil der großen Epen derselbe wie in den Balladen, nein, <lb n="pmu_064.023"/> nur an einzelnen Stellen noch erkennen wir den Balladenstil. Sonst aber <lb n="pmu_064.024"/> findet sich eine durchgreifende Verschiedenheit, die durch die Sammeltheorie <lb n="pmu_064.025"/> nicht im geringsten erklärt ist. Besonders A. Heusler hat auf diese <lb n="pmu_064.026"/> Schwierigkeiten hingewiesen. Er bezeichnet die Stilgegensätze als liedhafte <lb n="pmu_064.027"/> Knappheit einerseits und epische Breite andrerseits. Dazu kommen <lb n="pmu_064.028"/> die allerdings nicht so durchgehenden Gegensätze mündlich: schriftlich, gesprochen: <lb n="pmu_064.029"/> gesungen und auch oft strophisch und nichtstrophisch.</p> <lb n="pmu_064.030"/> <p> Heusler stellt darum der Sammeltheorie eine andre gegenüber, die <lb n="pmu_064.031"/> man als die „Schwelltheorie“ bezeichnen könnte. Er schreibt: „Die Heldensagen <lb n="pmu_064.032"/> haben in Deutschland vom 5. bis zum 12. Jahrhundert zwar <lb n="pmu_064.033"/> sehr bedeutende Umgestaltungen erfahren, aber ein sonderlich reicher Zuwachs <lb n="pmu_064.034"/> wurde auch den Sagen, die gut in der Erinnerung hafteten, nicht <lb n="pmu_064.035"/> zuteil. Sie bleiben kurze Liedinhalte, mit einem bescheidenen Bestande <lb n="pmu_064.036"/> an Szenen und Personen. Dies hinderte nicht, daß die Lieder derselben <lb n="pmu_064.037"/> Sagen in Einzelheiten ein gewisses Sondereigentum erwarben. Die Möglichkeit <lb n="pmu_064.038"/> war vorhanden, durch Zusammentragen dieser Sonderzüge ein </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0074]
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mit Musik kombinierten Vortrag. Aus diesem Umstand, daß sie mündlich pmu_064.002
vor einer Masse von Zuhörern vorgetragen wurden, erklärt sich der pmu_064.003
Stil dieser Werke, der in vielem dem Drama nahe verwandt ist, das zum pmu_064.004
Teil unter ähnlichen Bedingungen sich entwickelt hat. Als Charakteristika pmu_064.005
des Balladenstils ließen sich etwa nennen in formaler Hinsicht: Kürze pmu_064.006
und Prägnanz des Vortrags, Raschheit des Tempos, und in inhaltlicher pmu_064.007
Hinsicht: höchste Wucht der Motive, daher mit Vorliebe Kampf, Leidenschaft, pmu_064.008
Tod und jenes Grausen, das von überirdischen Mächten ausgeht pmu_064.009
und das in früheren Zeiten noch mehr als in unsern den Menschen bis ins pmu_064.010
Jnnerste erschüttern mußte. Über die Gründe gerade dieser Stilmomente pmu_064.011
aus der beabsichtigten Wirkung auf ein Massenpublikum wird unten gesprochen pmu_064.012
werden, wo es sich um das Drama handelt. Derartige balladenhafte pmu_064.013
Lieder scheinen nun überall den großen Epen zugrunde gelegen pmu_064.014
zu haben, die wir in den Frühzeiten unsrer Literaturen finden. Wie alte pmu_064.015
Säulen und Mauerreste in späteren Gebäuden erkennen wir jene noch pmu_064.016
in den großen Epen.
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5. Freilich erwachsen nun eine ganze Reihe von Problemen, sobald pmu_064.018
man diese Verarbeitung der alten Lieder genauer ins Auge faßt. Früher pmu_064.019
glaubte man mit Wolf und Lachmann, daß es sich um eine Sammlung pmu_064.020
und Aneinanderreihung solcher Einzellieder gehandelt habe. Dieser pmu_064.021
„Sammeltheorie“ nun stehen gewichtige Bedenken entgegen. Denn nicht pmu_064.022
etwa ist der Stil der großen Epen derselbe wie in den Balladen, nein, pmu_064.023
nur an einzelnen Stellen noch erkennen wir den Balladenstil. Sonst aber pmu_064.024
findet sich eine durchgreifende Verschiedenheit, die durch die Sammeltheorie pmu_064.025
nicht im geringsten erklärt ist. Besonders A. Heusler hat auf diese pmu_064.026
Schwierigkeiten hingewiesen. Er bezeichnet die Stilgegensätze als liedhafte pmu_064.027
Knappheit einerseits und epische Breite andrerseits. Dazu kommen pmu_064.028
die allerdings nicht so durchgehenden Gegensätze mündlich: schriftlich, gesprochen: pmu_064.029
gesungen und auch oft strophisch und nichtstrophisch.
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Heusler stellt darum der Sammeltheorie eine andre gegenüber, die pmu_064.031
man als die „Schwelltheorie“ bezeichnen könnte. Er schreibt: „Die Heldensagen pmu_064.032
haben in Deutschland vom 5. bis zum 12. Jahrhundert zwar pmu_064.033
sehr bedeutende Umgestaltungen erfahren, aber ein sonderlich reicher Zuwachs pmu_064.034
wurde auch den Sagen, die gut in der Erinnerung hafteten, nicht pmu_064.035
zuteil. Sie bleiben kurze Liedinhalte, mit einem bescheidenen Bestande pmu_064.036
an Szenen und Personen. Dies hinderte nicht, daß die Lieder derselben pmu_064.037
Sagen in Einzelheiten ein gewisses Sondereigentum erwarben. Die Möglichkeit pmu_064.038
war vorhanden, durch Zusammentragen dieser Sonderzüge ein
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