Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_065.001 Man wird in der Hauptsache sich den Vorgang so vorstellen können und pmu_065.011 Alles in allem kann man sowohl aus der Sammeltheorie wie aus der pmu_065.025 6. Wir pflegen heute, wenn wir von epischer Kunst sprechen, den Roman pmu_065.035 pmu_065.001 Man wird in der Hauptsache sich den Vorgang so vorstellen können und pmu_065.011 Alles in allem kann man sowohl aus der Sammeltheorie wie aus der pmu_065.025 6. Wir pflegen heute, wenn wir von epischer Kunst sprechen, den Roman pmu_065.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0075" n="65"/><lb n="pmu_065.001"/> reiches, gegliedertes Bild der Sage zu schaffen. Dies hat die oberdeutsche <lb n="pmu_065.002"/> Ependichtung des 12. und 13. Jahrhunderts getan. Sie hat außerdem <lb n="pmu_065.003"/> durch subjektive Neuschöpfung, von den andern Erzählgattungen mehr oder <lb n="pmu_065.004"/> minder befruchtet, die Zahl der dramatischen Auftritte und bedeutsamen <lb n="pmu_065.005"/> Gestalten vermehrt, die alte Sage in ihrem eigenen Geiste weiter ausgedichtet. <lb n="pmu_065.006"/> Sie hat drittens, und das ist das wichtigste, die Darstellungsart <lb n="pmu_065.007"/> von Grund auf umgewandelt, nämlich die liedhafte Gedrungenheit der <lb n="pmu_065.008"/> bisher üblichen Sagenpflege zu erzählerischer Breite nach dem Vorgang <lb n="pmu_065.009"/> geistlicher und höfischer Epik hinübergeführt.“</p> <lb n="pmu_065.010"/> <p> Man wird in der Hauptsache sich den Vorgang so vorstellen können und <lb n="pmu_065.011"/> ähnlich auch bei andern Völkern. Wo aber liegt der tiefere Grund dafür? <lb n="pmu_065.012"/> Nach unsrer Anschauung kann kein Zweifel sein, daß wir ihn in der Art der <lb n="pmu_065.013"/> <hi rendition="#g">Darbietung</hi> zu suchen haben. Vor allem durch die Verbreitung der Schrift <lb n="pmu_065.014"/> wurde es möglich, dem Stoffbedürfnis des Publikums in größerem Maße <lb n="pmu_065.015"/> Rechnung zu tragen. Und zwar wurde das in zwiefacher Hinsicht getan, <lb n="pmu_065.016"/> einmal, indem man immer weiter in die Länge spann, andrerseits indem <lb n="pmu_065.017"/> man verbreiterte. Parallel damit ging das Zurücktreten des musikalischen <lb n="pmu_065.018"/> Vortrags, wodurch gewisse Stileigenheiten der Ballade wie die Wiederholungen, <lb n="pmu_065.019"/> der Gleichlauf der Sätze, die Symmetrie der Perioden ihrer <lb n="pmu_065.020"/> Wurzeln beraubt wurden. Außerdem mußte das als Ersatz für die schwindende <lb n="pmu_065.021"/> Jntensität der Wirkung eine größere Extensität durch Detailschilderungen, <lb n="pmu_065.022"/> Episoden usw. mit sich bringen, was alles den Stil des großen <lb n="pmu_065.023"/> Epos bedingt.</p> <lb n="pmu_065.024"/> <p> Alles in allem kann man sowohl aus der Sammeltheorie wie aus der <lb n="pmu_065.025"/> Schwelltheorie einen richtigen Kern entnehmen. Gewiß ist die Schwellung <lb n="pmu_065.026"/> außerordentlich wichtig gewesen, doch nicht so durchgreifend, als daß <lb n="pmu_065.027"/> nicht an vielen Stellen deutlich der alte Balladenstil erhalten geblieben <lb n="pmu_065.028"/> wäre. Bedingt aber ist alles durch die neuen Möglichkeiten der Darbietung, <lb n="pmu_065.029"/> das Aufkommen der Schrift und das Zurücktreten des musikalischen <lb n="pmu_065.030"/> Vortrags wie des Vortrags vor großem Publikum. So stellen die großen <lb n="pmu_065.031"/> Epen (noch stärker als die Volksepen das höfische Epos) einen Übergang <lb n="pmu_065.032"/> zum Prosaroman vor, bei dem noch gründlicher aufgeräumt wurde mit <lb n="pmu_065.033"/> den ursprünglichen Stilformen der erzählenden Kunst.</p> <lb n="pmu_065.034"/> </div> <div n="3"> <p> 6. Wir pflegen heute, wenn wir von epischer Kunst sprechen, den <hi rendition="#g">Roman</hi> <lb n="pmu_065.035"/> meist dem alten Versepos gleichzuordnen, indem wir scheinbare <lb n="pmu_065.036"/> Äußerlichkeiten, wie den Vers usw., auf die leichte Achsel nehmen. Gewiß <lb n="pmu_065.037"/> lassen sich beide Formen unter dem Gesichtspunkte des Erzählens zusammenordnen, <lb n="pmu_065.038"/> trotzdem ist der Roman, wenn er auch der Erbe des Versepos </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0075]
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reiches, gegliedertes Bild der Sage zu schaffen. Dies hat die oberdeutsche pmu_065.002
Ependichtung des 12. und 13. Jahrhunderts getan. Sie hat außerdem pmu_065.003
durch subjektive Neuschöpfung, von den andern Erzählgattungen mehr oder pmu_065.004
minder befruchtet, die Zahl der dramatischen Auftritte und bedeutsamen pmu_065.005
Gestalten vermehrt, die alte Sage in ihrem eigenen Geiste weiter ausgedichtet. pmu_065.006
Sie hat drittens, und das ist das wichtigste, die Darstellungsart pmu_065.007
von Grund auf umgewandelt, nämlich die liedhafte Gedrungenheit der pmu_065.008
bisher üblichen Sagenpflege zu erzählerischer Breite nach dem Vorgang pmu_065.009
geistlicher und höfischer Epik hinübergeführt.“
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Man wird in der Hauptsache sich den Vorgang so vorstellen können und pmu_065.011
ähnlich auch bei andern Völkern. Wo aber liegt der tiefere Grund dafür? pmu_065.012
Nach unsrer Anschauung kann kein Zweifel sein, daß wir ihn in der Art der pmu_065.013
Darbietung zu suchen haben. Vor allem durch die Verbreitung der Schrift pmu_065.014
wurde es möglich, dem Stoffbedürfnis des Publikums in größerem Maße pmu_065.015
Rechnung zu tragen. Und zwar wurde das in zwiefacher Hinsicht getan, pmu_065.016
einmal, indem man immer weiter in die Länge spann, andrerseits indem pmu_065.017
man verbreiterte. Parallel damit ging das Zurücktreten des musikalischen pmu_065.018
Vortrags, wodurch gewisse Stileigenheiten der Ballade wie die Wiederholungen, pmu_065.019
der Gleichlauf der Sätze, die Symmetrie der Perioden ihrer pmu_065.020
Wurzeln beraubt wurden. Außerdem mußte das als Ersatz für die schwindende pmu_065.021
Jntensität der Wirkung eine größere Extensität durch Detailschilderungen, pmu_065.022
Episoden usw. mit sich bringen, was alles den Stil des großen pmu_065.023
Epos bedingt.
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Alles in allem kann man sowohl aus der Sammeltheorie wie aus der pmu_065.025
Schwelltheorie einen richtigen Kern entnehmen. Gewiß ist die Schwellung pmu_065.026
außerordentlich wichtig gewesen, doch nicht so durchgreifend, als daß pmu_065.027
nicht an vielen Stellen deutlich der alte Balladenstil erhalten geblieben pmu_065.028
wäre. Bedingt aber ist alles durch die neuen Möglichkeiten der Darbietung, pmu_065.029
das Aufkommen der Schrift und das Zurücktreten des musikalischen pmu_065.030
Vortrags wie des Vortrags vor großem Publikum. So stellen die großen pmu_065.031
Epen (noch stärker als die Volksepen das höfische Epos) einen Übergang pmu_065.032
zum Prosaroman vor, bei dem noch gründlicher aufgeräumt wurde mit pmu_065.033
den ursprünglichen Stilformen der erzählenden Kunst.
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6. Wir pflegen heute, wenn wir von epischer Kunst sprechen, den Roman pmu_065.035
meist dem alten Versepos gleichzuordnen, indem wir scheinbare pmu_065.036
Äußerlichkeiten, wie den Vers usw., auf die leichte Achsel nehmen. Gewiß pmu_065.037
lassen sich beide Formen unter dem Gesichtspunkte des Erzählens zusammenordnen, pmu_065.038
trotzdem ist der Roman, wenn er auch der Erbe des Versepos
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