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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Einleitung

125. Diese Künste werden nun dadurch unter einander
unterschieden, daß die eine, die Bildnerei oder Pla-
stik
, die organischen Formen selbst stereometrisch (insofern
es der verschiedene Stoff gestattet, ohne den Eindruck zu
2verderben), hinstellt: die andere, die Zeichnung oder
Graphik, durch Licht und Schatten auf einer Fläche
blos den Schein davon hervorbringt, indem nur durch
Licht und Schatten unser Auge Körperformen wahrnimmt.

1. Plastike, ursprünglich in engerm Sinne gebraucht (un-
ten: Technik) hat diese Bedeutung schon bei spätern Rhetoren und
Sophisten. Jakobs und Welcker ad Philostr. p. 195. Völ-
lig treue
stereometrische Darstellung verbietet der wesentlich ver-
schiedene Eindruck des lebendigen und leblosen Körpers, verschiedene
Stoffe gestatten indeß hierin verschiedene Grade der Annäherung.

2. Die Zeichnung nennt Kant gut die Kunst des Sin-
nenscheins
; doch verwandelt das Auge auch jedes plastische Werk
in ein Gemälde (oder viele). Bloße Umrißzeichnungen können nur
als Andeutung gelten, nicht als Kunstwerk für sich; wohl aber
Monochrome mit Licht und Schatten, Bilder en camayeu.

126. Die Farbe ist zwar der äußern Möglichkeit nach
mit beiden Künsten vereinbar, aber wirkt in der Plastik
um so unangenehmer, je mehr sie der Natur nahekom-
men will, weil bei solchem Bestreben den Körper völlig
wiederzugeben der Mangel des Lebens um so unangeneh-
2mer auffällt; dagegen verbindet sie sich ganz natürlich
mit der an sich unvollkommener darstellenden Zeichnung,
welche nicht die Körper sondern die Wirkungen des Lichts
auf ihnen darstellt, wozu die Farbe selbst gehört, und
3erhebt diese zu der Kunst der Mahlerei. Die Farbe
hat in ihrer Natur, ihren Wirkungen und Gesetzen große
Aehnlichkeit mit dem Ton.

1. Daher das Unerträgliche der Wachsfiguren. Die bezweckte
Illusion ist grade hier das Abstoßende. Die gemahlten xoana woll-
ten sie nicht.

3. Auch die Farben sind vielleicht nur quantitativ (nach Eu-
ler durch die Zahl der Schwingungen des Aethers) verschieden. Sie

Einleitung

125. Dieſe Kuͤnſte werden nun dadurch unter einander
unterſchieden, daß die eine, die Bildnerei oder Pla-
ſtik
, die organiſchen Formen ſelbſt ſtereometriſch (inſofern
es der verſchiedene Stoff geſtattet, ohne den Eindruck zu
2verderben), hinſtellt: die andere, die Zeichnung oder
Graphik, durch Licht und Schatten auf einer Flaͤche
blos den Schein davon hervorbringt, indem nur durch
Licht und Schatten unſer Auge Koͤrperformen wahrnimmt.

1. Πλαστική, urſprünglich in engerm Sinne gebraucht (un-
ten: Technik) hat dieſe Bedeutung ſchon bei ſpätern Rhetoren und
Sophiſten. Jakobs und Welcker ad Philostr. p. 195. Völ-
lig treue
ſtereometriſche Darſtellung verbietet der weſentlich ver-
ſchiedene Eindruck des lebendigen und lebloſen Körpers, verſchiedene
Stoffe geſtatten indeß hierin verſchiedene Grade der Annäherung.

2. Die Zeichnung nennt Kant gut die Kunſt des Sin-
nenſcheins
; doch verwandelt das Auge auch jedes plaſtiſche Werk
in ein Gemälde (oder viele). Bloße Umrißzeichnungen können nur
als Andeutung gelten, nicht als Kunſtwerk für ſich; wohl aber
Monochrome mit Licht und Schatten, Bilder en camayeu.

126. Die Farbe iſt zwar der aͤußern Moͤglichkeit nach
mit beiden Kuͤnſten vereinbar, aber wirkt in der Plaſtik
um ſo unangenehmer, je mehr ſie der Natur nahekom-
men will, weil bei ſolchem Beſtreben den Koͤrper voͤllig
wiederzugeben der Mangel des Lebens um ſo unangeneh-
2mer auffaͤllt; dagegen verbindet ſie ſich ganz natuͤrlich
mit der an ſich unvollkommener darſtellenden Zeichnung,
welche nicht die Koͤrper ſondern die Wirkungen des Lichts
auf ihnen darſtellt, wozu die Farbe ſelbſt gehoͤrt, und
3erhebt dieſe zu der Kunſt der Mahlerei. Die Farbe
hat in ihrer Natur, ihren Wirkungen und Geſetzen große
Aehnlichkeit mit dem Ton.

1. Daher das Unerträgliche der Wachsfiguren. Die bezweckte
Illuſion iſt grade hier das Abſtoßende. Die gemahlten ξόανα woll-
ten ſie nicht.

3. Auch die Farben ſind vielleicht nur quantitativ (nach Eu-
ler durch die Zahl der Schwingungen des Aethers) verſchieden. Sie

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[12/0034] Einleitung 25. Dieſe Kuͤnſte werden nun dadurch unter einander unterſchieden, daß die eine, die Bildnerei oder Pla- ſtik, die organiſchen Formen ſelbſt ſtereometriſch (inſofern es der verſchiedene Stoff geſtattet, ohne den Eindruck zu verderben), hinſtellt: die andere, die Zeichnung oder Graphik, durch Licht und Schatten auf einer Flaͤche blos den Schein davon hervorbringt, indem nur durch Licht und Schatten unſer Auge Koͤrperformen wahrnimmt. 1 2 1. Πλαστική, urſprünglich in engerm Sinne gebraucht (un- ten: Technik) hat dieſe Bedeutung ſchon bei ſpätern Rhetoren und Sophiſten. Jakobs und Welcker ad Philostr. p. 195. Völ- lig treue ſtereometriſche Darſtellung verbietet der weſentlich ver- ſchiedene Eindruck des lebendigen und lebloſen Körpers, verſchiedene Stoffe geſtatten indeß hierin verſchiedene Grade der Annäherung. 2. Die Zeichnung nennt Kant gut die Kunſt des Sin- nenſcheins; doch verwandelt das Auge auch jedes plaſtiſche Werk in ein Gemälde (oder viele). Bloße Umrißzeichnungen können nur als Andeutung gelten, nicht als Kunſtwerk für ſich; wohl aber Monochrome mit Licht und Schatten, Bilder en camayeu. 26. Die Farbe iſt zwar der aͤußern Moͤglichkeit nach mit beiden Kuͤnſten vereinbar, aber wirkt in der Plaſtik um ſo unangenehmer, je mehr ſie der Natur nahekom- men will, weil bei ſolchem Beſtreben den Koͤrper voͤllig wiederzugeben der Mangel des Lebens um ſo unangeneh- mer auffaͤllt; dagegen verbindet ſie ſich ganz natuͤrlich mit der an ſich unvollkommener darſtellenden Zeichnung, welche nicht die Koͤrper ſondern die Wirkungen des Lichts auf ihnen darſtellt, wozu die Farbe ſelbſt gehoͤrt, und erhebt dieſe zu der Kunſt der Mahlerei. Die Farbe hat in ihrer Natur, ihren Wirkungen und Geſetzen große Aehnlichkeit mit dem Ton. 1 2 3 1. Daher das Unerträgliche der Wachsfiguren. Die bezweckte Illuſion iſt grade hier das Abſtoßende. Die gemahlten ξόανα woll- ten ſie nicht. 3. Auch die Farben ſind vielleicht nur quantitativ (nach Eu- ler durch die Zahl der Schwingungen des Aethers) verſchieden. Sie

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/34>, abgerufen am 29.03.2024.