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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Zur Theorie der Kunst.
ander liegen, aber in den höheren Aufgaben immer wei-
ter auseinandertreten, ohne doch je ihre Einheit zu ver-
lieren. Das Hauptgesetz ist, daß die Kunstidee des Werks2
aus seiner Zweckbestimmung für ein lebendiges und tie-
fes Gefühl natürlich hervorgehn müsse.

1. Ein Gefäß für einen einfachen Zweck wird meist dadurch
schön sein, daß es zweckmäßig ist. Wie innig auch in der Archi-
tektur die utilitas mit der venustas und dignitas zusammen-
hänge, führt schon Cicero de Or. iii, 46 schön aus. Doch trennt
sich natürlich in den Gebäuden für den Cultus zuerst die Kunstidee
von der äußern Zweckmäßigkeit. Die Gothische Kirche hat ihre
Höhe nicht der Zweckmäßigkeit zu verdanken.


24. Diejenigen Künste, welche durch aus dem Leben1
hervorgegangne, organische Naturformen darstel-
len, sind (§. 17, 2.) wesentlich nachahmend, auf
künstlerischem Naturstudium beruhend, indem nur die wirk-
liche organische Naturform in jenem nothwendigen und
innigen Zusammenhange zum geistigen Leben steht (§. 2. 3.),
jene durchgängige Bedeutsamkeit hat, auf welcher die Kunst
beruht. Aber sie vermögen eine Anschauung der orga-2
nischen Form zu erreichen, welche über der einzelnen Er-
fahrung steht, und finden in dieser die Grundform für
ihre erhabensten Ideen.

2. Die vollkommen organische Form ist eben so wenig in der
Erfahrung gegeben, wie ein reines mathematisches Verhältniß, aber
kann aus dem Erfahrenen herausgefühlt und in der Begeisterung
ergriffen werden. Auf dem Streben nach einer solchen Auffassung
des Organismus beruht der gesunde Idealstyl der besten
Griechischen Kunst. Ueber die verkehrten Richtungen der Ideali-
sten
und Realisten in Kunst und Theorie spricht sehr einsichts-
voll C. F. von Rumohr Italienische Forschungen 1 S. 1--157.
Die Verbindungen niedrer Naturformen untereinander und mit der
menschlichen (Kentauren, Greifen, Flügelfiguren) werden durch den
Glauben gerechtfertigt, und gehören in den besten Zeiten mehr der
schmückenden Bildnerei an.

Zur Theorie der Kunſt.
ander liegen, aber in den hoͤheren Aufgaben immer wei-
ter auseinandertreten, ohne doch je ihre Einheit zu ver-
lieren. Das Hauptgeſetz iſt, daß die Kunſtidee des Werks2
aus ſeiner Zweckbeſtimmung fuͤr ein lebendiges und tie-
fes Gefuͤhl natuͤrlich hervorgehn muͤſſe.

1. Ein Gefäß für einen einfachen Zweck wird meiſt dadurch
ſchön ſein, daß es zweckmäßig iſt. Wie innig auch in der Archi-
tektur die utilitas mit der venustas und dignitas zuſammen-
hänge, führt ſchon Cicero de Or. iii, 46 ſchön aus. Doch trennt
ſich natürlich in den Gebäuden für den Cultus zuerſt die Kunſtidee
von der äußern Zweckmäßigkeit. Die Gothiſche Kirche hat ihre
Höhe nicht der Zweckmäßigkeit zu verdanken.


24. Diejenigen Kuͤnſte, welche durch aus dem Leben1
hervorgegangne, organiſche Naturformen darſtel-
len, ſind (§. 17, 2.) weſentlich nachahmend, auf
kuͤnſtleriſchem Naturſtudium beruhend, indem nur die wirk-
liche organiſche Naturform in jenem nothwendigen und
innigen Zuſammenhange zum geiſtigen Leben ſteht (§. 2. 3.),
jene durchgaͤngige Bedeutſamkeit hat, auf welcher die Kunſt
beruht. Aber ſie vermoͤgen eine Anſchauung der orga-2
niſchen Form zu erreichen, welche uͤber der einzelnen Er-
fahrung ſteht, und finden in dieſer die Grundform fuͤr
ihre erhabenſten Ideen.

2. Die vollkommen organiſche Form iſt eben ſo wenig in der
Erfahrung gegeben, wie ein reines mathematiſches Verhältniß, aber
kann aus dem Erfahrenen herausgefühlt und in der Begeiſterung
ergriffen werden. Auf dem Streben nach einer ſolchen Auffaſſung
des Organismus beruht der geſunde Idealſtyl der beſten
Griechiſchen Kunſt. Ueber die verkehrten Richtungen der Ideali-
ſten
und Realiſten in Kunſt und Theorie ſpricht ſehr einſichts-
voll C. F. von Rumohr Italieniſche Forſchungen 1 S. 1—157.
Die Verbindungen niedrer Naturformen untereinander und mit der
menſchlichen (Kentauren, Greifen, Flügelfiguren) werden durch den
Glauben gerechtfertigt, und gehören in den beſten Zeiten mehr der
ſchmückenden Bildnerei an.

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[11/0033] Zur Theorie der Kunſt. ander liegen, aber in den hoͤheren Aufgaben immer wei- ter auseinandertreten, ohne doch je ihre Einheit zu ver- lieren. Das Hauptgeſetz iſt, daß die Kunſtidee des Werks aus ſeiner Zweckbeſtimmung fuͤr ein lebendiges und tie- fes Gefuͤhl natuͤrlich hervorgehn muͤſſe. 2 1. Ein Gefäß für einen einfachen Zweck wird meiſt dadurch ſchön ſein, daß es zweckmäßig iſt. Wie innig auch in der Archi- tektur die utilitas mit der venustas und dignitas zuſammen- hänge, führt ſchon Cicero de Or. iii, 46 ſchön aus. Doch trennt ſich natürlich in den Gebäuden für den Cultus zuerſt die Kunſtidee von der äußern Zweckmäßigkeit. Die Gothiſche Kirche hat ihre Höhe nicht der Zweckmäßigkeit zu verdanken. 24. Diejenigen Kuͤnſte, welche durch aus dem Leben hervorgegangne, organiſche Naturformen darſtel- len, ſind (§. 17, 2.) weſentlich nachahmend, auf kuͤnſtleriſchem Naturſtudium beruhend, indem nur die wirk- liche organiſche Naturform in jenem nothwendigen und innigen Zuſammenhange zum geiſtigen Leben ſteht (§. 2. 3.), jene durchgaͤngige Bedeutſamkeit hat, auf welcher die Kunſt beruht. Aber ſie vermoͤgen eine Anſchauung der orga- niſchen Form zu erreichen, welche uͤber der einzelnen Er- fahrung ſteht, und finden in dieſer die Grundform fuͤr ihre erhabenſten Ideen. 1 2 2. Die vollkommen organiſche Form iſt eben ſo wenig in der Erfahrung gegeben, wie ein reines mathematiſches Verhältniß, aber kann aus dem Erfahrenen herausgefühlt und in der Begeiſterung ergriffen werden. Auf dem Streben nach einer ſolchen Auffaſſung des Organismus beruht der geſunde Idealſtyl der beſten Griechiſchen Kunſt. Ueber die verkehrten Richtungen der Ideali- ſten und Realiſten in Kunſt und Theorie ſpricht ſehr einſichts- voll C. F. von Rumohr Italieniſche Forſchungen 1 S. 1—157. Die Verbindungen niedrer Naturformen untereinander und mit der menſchlichen (Kentauren, Greifen, Flügelfiguren) werden durch den Glauben gerechtfertigt, und gehören in den beſten Zeiten mehr der ſchmückenden Bildnerei an.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/33>, abgerufen am 24.11.2024.